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Herr Hübner ist da

 

Unsere Autorin ist Schriftstellerin und nebenher Fußpflegerin in Marzahn. Vielen ist ein Besuch bei ihr peinlich, manche entschuldigen sich im Voraus. Und dann gibt’s noch die spezielle Laufkundschaft.

© Lena Mucha für ZEIT ONLINE

Dieser Text ist Teil unserer Miniserie „Fußpflege in Marzahn“. Alle Folgen finden Sie hier.

Seit drei Jahren arbeite ich in Berlin-Marzahn als Fußpflegerin. Die meisten meiner etwa sechzig Kunden sind Stammkunden. Sie statten mir alle vier bis sieben Wochen einen Besuch ab. Im Lauf der Zeit habe ich diese Kunden kennengelernt, ihre Eigenheiten und Marotten, ihre Lebensgeschichten, ihre Schicksale. Ich mag sie, weiß sie zu nehmen und freue mich immer, sie nach einigen Wochen wohlbehalten wiederzusehen. Die Füße der Stammkunden sind dank regelmäßiger Pflege in gutem Zustand.

Hin und wieder taucht Laufkundschaft auf, die so heißt, obwohl sie nicht gut laufen kann – schmerzende Hühneraugen, eingewachsene Nägel oder die akuten Folgen eines blutigen Selbstversuchs im heimischen Badezimmer treiben sie in unser Studio. Auch Leute von auswärts, Leute mit Gutschein und Leute, denen der Anblick ihrer Füße nur vorübergehend wichtig ist (Wellnessurlaub, Krankenhausaufenthalt, neue Freundin), gehören zur Laufkundschaft. Manchmal gelingt es mir, die Laufkundschaft nach erfolgreichem Erstkontakt in Stammkundschaft zu verwandeln.

Menschen, die zum ersten Mal in unser Studio kommen, nennt meine Chefin Tiffy Neukunden. Betritt ein Neukunde das Studio, schließe ich insgeheim Wetten mit mir selbst ab: Folgetermin? Trinkgeld? Entschuldigung? Bei dieser, der Entschuldigungswette, tippe ich immer auf Ja und gewinne. Ob Polier vom Bau oder eitler Ganzkörpertätowierter, ob Schwangere oder Greisin, ob geistiger Tiefflieger oder Akademiker – wirklich jeder entschuldigt sich, wenn er im Fußpflegeraum zum ersten Mal Schuhe und Socken abstreift, für seine Füße. Es spielt überhaupt keine Rolle, in welchem Zustand sie sind. Die Sache ist neu und ungewohnt, die Begegnung ein bisschen zu intim, eine leichte Peinlichkeit entsteht – dem trägt die Entschuldigung Rechnung.

An einem Mittwochmorgen las ich im Terminbuch den Namen Herr Hübner.

„Kennst du den?“, fragte ich Tiffy.

Sie schüttelte den Kopf.

„Neukunde“, sagte sie, „bisschen komischer Vogel. Kam mit seiner Frau, um den Termin zu machen. Die hat, glaube ich, in der Ehe die Hosen an.“

Im Gänsemarsch

Um 15 Uhr stand Herr Hübner vor der Tür, ein aus dem Leim gegangener Endfünfziger in grauem Kapuzenschlabberpulli und ebenso grauen ausgebeulten Jogginghosen. Mit deutlichem Widerwillen blickte er durch die Scheibe. Neben ihm stand seine Frau, eine korpulente Person in wallenden schwarzen Gewändern und mit einer zerzausten, leuchtrot gefärbten Langhaarfrisur. Auf der anderen Seite von Herrn Hübner stand ein junges Mädchen, dünn, bleich, plattgesichtig, ein unscheinbares Wesen, dem einzig die mit schwarzem Kajalstift umrandeten Augen Kontur verliehen. Sie war vermutlich Herrn Hübners Tochter. Der wollte mir, als ich die Tür öffnete und ihn freundlich begrüßte, nicht die Hand geben und versteckte sich hinter seiner Frau. Sie und die Tochter redeten dem Mann gut zu. Als das nicht half, schoben sie ihn, der sich wie ein lahmer Ackergaul benahm, mit vereinter Kraft über die Schwelle. Herr Hübner schaute sich im Eingangsbereich ängstlich um und mich aus seltsam triefenden Augen an.

Ich bat die Familie Platz zu nehmen und bereitete das Fußbad vor. Als ich zurückkam, erklärte ich, die Behandlung werde etwa eine Stunde dauern. Die Damen könnten hier sitzen bleiben oder in dieser Zeit Erledigungen machen. „Wir bleiben“, sagte die Mutter; die Tochter nickte. Ich bat Herrn Hübner, mir in den Fußpflegeraum zu folgen. Doch nicht nur er, alle drei erhoben sich und folgten mir im Gänsemarsch. Ich sagte, dass es mir lieber wäre, wenn die Begleitung im Eingangsbereich warte, doch die Damen ließen sich weder von mir, noch von der Enge des Raumes, auch nicht von fehlenden Sitzgelegenheiten vertreiben. Da standen sie im Weg herum und gaben mir zu verstehen, dass ich mich heraushalten solle aus Dingen, von denen ich keine Ahnung hätte. Ich wies Herrn Hübner seinen Platz auf dem pinkfarbenen Fußpflegestuhl zu; er drehte sich einmal um sich selbst, ehe er sich zögerlich setzte, als fürchte er, sich schmutzig zu machen.

Ich rückte das Fußbad zurecht; Herr Hübner zog die Schuhe aus, das heißt: Er schmiss sie von den Füßen. Es waren uralte, ausgelatschte, ehemals schwarze Crocs mit Luftlöchern. Was zum Vorschein kam, entstammte der Tierwelt. Wie es roch, habe ich verdrängt. Mir wurde klar, dass Herrn Hübners Gehwerkzeuge jede Socke sofort zerstört und in keinem geschlossenen Schuh Platz gefunden hätten. Deshalb ging er, sommers wie winters und sicherlich seit vielen Jahren, barfuß in diesen gummibootartigen Pantoffeln. Während Herr Hübner sich bequemte, die Füße ins Wasser zu stellen, wimmerte er leise und blickte wie ein getretener Hund die Frauen an, die ihm wieder gut zuredeten, ihn beruhigten und ihm Mut zusprachen für die schwere Stunde, die ihm bevorstand.

Mit gerümpften Nasen

Ich kapierte: ich war nicht seine Helferin, ich war sein Feind. Als ich die Latexhandschuhe überstreifte, fiel mir noch etwas auf, etwas, das fehlte. Die Entschuldigung. Ausgerechnet der, dessen Füße einen Verwahrlosungsgrad erreicht hatten, der seinesgleichen suchte, entschuldigte sich nicht. Auch seine Frau und seine Tochter entschuldigten sich nicht; nicht einmal eine Erklärung für das, was ich da pflegen sollte, hielten sie für nötig. Wortlos standen sie rechts und links des Fußpflegestuhls, in der Mitte der wimmernde Herr Hübner.

Nachdem ich dessen Füße gewaschen hatte, sah ich mir unter der Lupenlampe das Ausmaß der Verwahrlosung genauer an.

„Ihr Mann hat sich länger nicht die Zehennägel geschnitten“, sagte ich zur Korpulenten, während ich Herrn Hübners Füße großflächig desinfizierte.

„Das ist nicht mein Mann“, erwiderte die Korpulente und lachte pikiert auf.

„Dann ist er wohl auch nicht Ihr Vater?“, sagte ich zur Plattgesichtigen.

„Nee“, sagte die und verdrehte die kajalumrandeten Augen.

Ich nahm die größte Zange aus dem Rollschrank. Die mehrere Zentimeter langen Krallen ließen sich nur in Etappen kürzen. Ich brauchte die volle Kraft beider Hände und stand vom Rollhocker auf, um die Hebelwirkung der Zange zu verstärken. Herr Hübner wimmerte lauter und gebärdete sich, als wolle ich ihm sein Kostbarstes entreißen. Die Korpulente tätschelte ihm lieblos den Unterarm; die Plattgesichtige machte es ihr flüchtig nach. Die Korpulente sagte „gleich vorbei“, „gar nicht so schlimm“; die Plattgesichtige sagte „genau“. Zwischendurch schielten sie zu seinen Füßen hin, mit gerümpften Nasen und einem Ekel im Gesicht, der zwar Herrn Hübner, nicht aber mir verborgen blieb. Ihre Blicke teilten mir mit, dass in meinem Leben einiges schiefgelaufen sein müsse, wenn ich mit einer derart abstoßenden und schweißtreibenden Tätigkeit mein Geld zu verdienen gezwungen war.

„Und lasst euch den Kuchen nur recht jut schmecken!“

Ich hatte das Gröbste weggeschnitten und trug Hornhautweicher auf, um die Krusten um die Nagelfalze gefügig zu machen. Als ich die Sonde aus der Nierenschale nahm und ansetzte, produzierte Herr Hübner einen neuen Wimmeranfall. Ich hielt inne, ließ die Sonde sinken und schaute das Trio an. Erst die Plattgesichtige, die Kaugummi kaute, dann die Korpulente, die gerade auf ihre Armbanduhr linste, dann Herrn Hübner. Ihn fixierte ich, sah ihm forschend ins aufgedunsene Gesicht, in die triefenden Augen. Dabei stellte ich fest, dass er nicht so alt sein konnte, wie er aussah. Ein kleines Schweigen entstand.

„Ihr Lieben!“, rief Herr Hübner in die Stille, „wenn ick euch nich hätte! Ohne euch hätt ick dit nie jeschafft hierherzukomm!“ Er wandte sich nach rechts und nach links, ergriff die Hände seiner beiden Begleiterinnen und drückte sie an seine Brust. „Ick weeß übahaupt nich, wie ick euch danken soll! Ick hoffe bloß, der Kuchen, den ick extra für euch jebacken habe, schmeckt euch ooch!“ Die Damen entzogen ihm ihre Hände, tätschelten Herrn Hübner wieder, „Jaja“, „lieb von dir“, „schmeckt bestimmt“.

Ich fuhr mit meiner Arbeit fort. Polkte jede Menge verhornte Haut aus den Falzen. Besserte mit einer kleineren, dann mit der Eckenzange nach. Fegte zwischendurch den Nagelhaufen zusammen, der unter Herrn Hübners Füßen am Boden lag. Das Trio plauderte über den Kuchen, nicht ohne aus den Augenwinkeln meine Handlungen zu verfolgen. Inzwischen hatte ich den Eindruck, dass auch Herrn Hübner anekelte, was ich tat.

„Tschüss“, sagte die Korpulente plötzlich, „Tschüss“, echote die Plattgesichtige, und wie auf Kommando drehten die Frauen sich auf dem Absatz um und verließen den Fußpflegeraum.

„Bis morjen, ihr Lieben!“, zwitscherte Herr Hübner ihnen nach. „Und lasst euch den Kuchen nur recht jut schmecken!“

Die Tür unseres Studios fiel zu.

„Wo wollen die hin?“, fragte ich erstaunt, „wir sind doch noch gar nicht fertig.“

„Feierabend“, sagte Herr Hübner und entspannte sich sichtlich. Er machte es sich auf dem Fußpflegestuhl bequem; es hätte nicht viel gefehlt und er hätte die Beine lässig übereinandergeschlagen. Ich sah auf die Wanduhr: Punkt halb vier.

„Sozialbetreua“, sagte Herr Hübner, „die Dünne is der Azubi von die Dicke.“

„Wat soll der Jeiz?“

Mit dem gröbsten Fräserkopf und der höchsten Umdrehungszahl, die ich je eingestellt hatte, machte ich mich an den Nagelplatten zu schaffen. Herr Hübner jammerte nicht und zierte sich nicht; er bemerkte nicht einmal, wie ich die Klinge in den Hobel spannte. Während ich ihm dicke Späne von den Fersen schabte, erzählte er mir nicht ohne Stolz Schnurren aus seinem Leben. Er hatte nichts gelernt, nie gearbeitet, aber seit Teenagerzeiten gesoffen wie ein Loch. In seiner Plattenbauwohnung hatte er vor sich hin vegetiert und – seit der Weg zum Bett vor lauter Müll unbegehbar geworden war – im Fernsehsessel übernachtet. Als der Müll auf dem Balkon anfing über die Brüstung zu quellen, hatten die Nachbarn reklamiert und die Polizei gerufen. So geriet Herr Hübner in die Hände von Psychologen, Therapeuten und Sozialbetreuern, gelobte Besserung und bekam einen Platz im Betreuten Wohnen für Suchtkranke. „Ab und zu muss ick inne Selbsthilfegruppe, bisschen rumlabern, manchma uffs Amt wejen de Formulare, aba ansonsten lassense ma in Ruhe. Fernsehn kieken, inne Sonne liejen, Kumpels treffen.“

„Und Kuchen backen“, sagte ich.

Herr Hübner winkte ab.

„Ick würd den nich essen. Aba die Mädels brauchen wat für ihr Jutachten, dass ick ma Mühe jebe und so.“

Ich hatte inzwischen die Fersen mit der Feile geglättet, die Füße eingecremt, den Fußpflegestuhl ins Parterre gefahren und die Beinstützen eingeklappt. Herr Hübner schlüpfte in seine versifften Crocs und schlurfte mir nach zum Kassentresen, wo ich zweiundzwanzig Euro verlangte.

„Janz schön teua“, sagte er und zwinkerte mir zu, „naja, wat soll der Jeiz, zahlt allet Vadda Staat, wa?“

Ich fasste mir ein Herz und fragte Herrn Hübner, warum nicht eine seiner Sozialbetreuerinnen ihm die Zehennägel schnitt. Oder gar er selbst? „Die ham dit nich im Vertrach, meene Freundin kann ick dit nich zumuten und ick bin depressiv“, sagte er und verließ das Studio ohne Dank, ohne Gruß und ohne Eile.

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