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„Und ick dachte, du jehst zum Frisör“

 

Unsere Autorin ist Schriftstellerin und Fußpflegerin. Ehepaar Huth kommt gemeinsam. Sie wegen rotlackierter Zehennägel. Er ist dement und hat es schon wieder vergessen.

© Lena Mucha für ZEIT ONLINE

Der Parkfriedhof Marzahn morgens um acht. Die Sonne blinkert durchs dichte Blätterdach. Das Gras ist noch feucht von der Nacht und die Luft so frisch, dass man hineinbeißen möchte. Ich durchstreife die Grabreihen, schaue die Bepflanzungen an, lese Inschriften. Viele Russen sind hier begraben und Berliner Urgewächse, man sieht es den Namen an. Auch Herr Paulke, der einst mein Kunde war, liegt hier. Ein Eichelhäher kreischt, Singvögel jubilieren, zwei Eichhörnchen jagen einander. Eine Magnolie ist dabei, die Blütenblätter abzuschmeißen wie Konfetti. Es ist schön, den Tag auf einem menschenleeren Friedhof zu beginnen. Ich verlasse ihn, überquere die alte S-Bahn-Brücke, denn ich muss zur Arbeit. Zehn Minuten laufe ich durchs Wohngebiet und erreiche das Hochhaus mit unserem Kosmetikstudio.

Meine Kundin Frau Huth ist eine energische, rundliche Person, eine Urberlinerin, die seit dreißig Jahren mit ihrem Mann in Marzahn wohnt, nicht weit von unserem Studio entfernt. Ihre Füße sind so klein und fest wie die ganze Frau, und unter den vorderen Nagelkanten, wo die Nerven enden, ist Frau Huth sehr empfindlich. Sie hat ihren eigenen Nagellack bei mir im Schrank stehen, ein Korallenrot, mit dem ich ihr in der warmen Jahreszeit, wenn sie die weißen Riemchenschlappen trägt, die Zehennägel lackiere. Um das Ergebnis zu betrachten, wühlt Frau Huth eine Lupe aus ihrer großen Handtasche. Frau Huth hat alle Arten von Augenoperationen hinter sich. „Kieken kann ick trotzdem nich. Aba mir kricht keena mehr untert Messa. Die ham jenuch vadient an mir.“

Ich mag Frau Huths unsentimentale Ader. Sie ist schlagfertig, redet schnell, lacht sogar schnell, ein meckernder Klang, der ansteckend ist, und ihre Augen flitzen dazu wie Pucks hin und her, als entginge ihnen nicht die kleinste Regung. Frau Huth hätte niemals die Zeit, wie ich am Morgen, ein Stündchen über den Parkfriedhof zu streunen. Sie ist dreiundachtzig Jahre alt und immer im Einsatz, vierundzwanzig Stunden am Tag.

Als ich sie kennenlernte, wünschte ich mir, dass sie verschnaufen konnte, wenn sie auf dem Fußpflegestuhl zum Sitzen kam, wenigstens für diese eine Stunde. Massierte ich ihre Füße, erinnerte ich sie daran, die Muskeln locker zu lassen. Aber Frau Huth wirkte immer gehetzt. Sie befürchtete, dass ihr Mann die Wohnung verließ, und sich auf den Weg machte, um seine Frau zu suchen. Dass er sich dabei verlief, und sie wiederum ihn suchen musste. Sie rannte – der korallenrote Lack auf den Zehennägeln war noch nicht ganz trocken – aus dem Studio. Sie fand ihren Mann an Orten, die er seit dreißig Jahren kannte: vor der Apotheke, auf dem Wochenmarkt beim Obst- und Gemüsestand, vor der Bankfiliale. Dort verteilte er einmal Geld an Passanten. Sie nahm ihn bei der Hand und ging mit ihm nach Hause.

Später malte sie ihrem Mann eine Uhr auf ein Blatt Papier. Den großen Zeiger zeichnete sie zur Neun hin, legte das Blatt auf den Wohnzimmertisch und trichterte ihrem Mann ein, darauf zu warten, bis auch der große Zeiger der Wanduhr auf die Neun zeigte. Dann sollte er losgehen und seine Frau von der Fußpflege abholen. Es ging schief. Herr Huth fand das Studio nicht. Er stand hundert Meter weiter verloren vor dem Friseursalon, in dem Frau Huth sich seit dreißig Jahren die Haare machen lässt.

Ich schlug Frau Huth vor, ihren Mann mitzubringen. Er saß, während sie sich die Füße pediküren ließ, im Eingangsbereich unseres Studios im Korbsessel und las eine Zeitung. Streng genommen hielt er die Zeitung so, dass es aussah, als läse er darin. „Wat da drin steht, is sowieso ejal“, sagte Frau Huth, und wir kicherten. Zu Hause säße er auch immer so da, auf dem Sofa, ihr sei das nur recht, so könne sie schnell den Haushalt in Ordnung bringen. Er wolle ja unbedingt immer helfen im Haushalt, stöhnte sie und verdrehte die flinken Äuglein. Vor einiger Zeit habe sie ihm noch den Staubsauger in die Hand gedrückt, aber das sei vorbei, er schaffe es nicht mehr. Frau Huth ging dazu über, Herrn Huth mit Badreiniger und Schwamm auszustaffieren. Seither poliert er bis zu sechsmal täglich das Waschbecken. „Sie glooben jar nich, wie dit Ding glänzt!“, sagte sie und lachte ihr ansteckendes Lachen.

Vom Fußpflegeraum aus rief Frau Huth ihren Mann, „Gerhard!“ rief sie, und nochmal mit Nachdruck „Gerhard!“ Herr Huth, der sehr schwer hört, kam nicht. Ich ging und holte ihn. Er schaute zögerlich um den Türrahmen. Er sah, dass die nackten Füße seiner Frau in einer Schüssel voller Wasser und Schaum standen. Er sagte: „Und ick dachte, du jehst zum Frisör.“ Die Fußpflege, die Frau Huth seit drei Jahren aufsucht, findet keinen Platz mehr in Herrn Huths dementem Hirn. Jedes Mal, wenn er an der Hand seiner Frau vor unserer Tür steht, ist das erste Mal.

Die Armbanduhr von Herrn Huth steht immer auf halb eins. Einmal klopfte er auf dem Uhrglas herum, als könne er die Zeiger zur Bewegung animieren, schüttelte das Handgelenk, hielt die Uhr ans nahezu taube Ohr. Zuckte mit den Schultern. „Nüscht zu machen“, sagte er, und ich dachte an Warten auf Godot, das Theaterstück von Samuel Beckett, und wie Estragon seinen Schuh ausschüttelt und Wladimir seinen Hut ausklopft.

Beim nächsten Besuch bot ich Herrn Huth einen Platz im Fußpflegeraum an, auf dem Stuhl am Fenster. Frau Huth entnahm dem Büchertauschregal, das in unserem Studio steht, ein Witzbuch und gab es ihrem Mann, der es gehorsam aufschlug. Als Frau Huth die Füße ins Fußbad stellte, sah Herr Huth verwundert vom Buch auf und sagte: „Und ick dachte, du jehst zum Frisör.“ Frau Huth und ich kicherten; Herr Huth senkte den Kopf, sah reglos in das Buch, blätterte nie um und lachte nie. „Ich finde die Witze in dem Buch auch nicht lustig“, sagte ich. Frau Huth schüttelte den Kopf und sagte, ihr Mann würde in letzter Zeit überall und andauernd einschlafen.

Frau Huth hat immer voll gearbeitet, erst im Büro, dann in einem Delikatladen in der Leipziger Straße. Sie hat drei Kinder bekommen, und als ihre Schwester früh starb, hat sie deren zwei Kinder aufgenommen und zusammen mit den eigenen großgezogen. Frau Huth hat keinem System je getraut, weder dem Sozialismus noch dem Kapitalismus, immer ein bisschen Angst um ihre Kinder gehabt und aufgepasst wie eine Löwin, dass die Familie Abend für Abend heil an den Küchentisch zurückkehrte. Als Frau Huth in Rente ging, wurde ihr Mann krank, Prostatakrebs, und eine Odyssee durch die Krankenhäuser begann: Operationen, Bestrahlungen, Chemotherapien, Bekämpfung der Nebenwirkungen durch Medikamente und weitere medizinische Maßnahmen. Inzwischen hat der Krebs im ganzen Körper gestreut. Der nächste Eingriff wurde geplant, am Oberkiefer, der halb weggeschnitten werden sollte. Schluss, hat Frau Huth entschieden, keine Operation mehr. Seither gilt Herr Huth als austherapiert. Drei- bis viermal pro Woche fährt er an der Hand seiner Frau zum Zahnarzt nach Friedrichshain, wo die betroffenen Stellen im Mund versorgt werden. „Ick kann bald nich mehr“, sagt Frau Huth leise und: „Er hat imma jut für uns jesorgt.“ Herr Huth ist Frau Huths letztes Kind, allerdings eines, das man weder in den Kindergarten noch in den Sportverein schicken kann. „Pflejeheim kommt nich inne Tüte“, sagt Frau Huth getreu ihrem Misstrauen gegen alle Systeme, Ämter und Institutionen.

Manchmal, erzählt Frau Huth, hat Herr Huth einen hellen Moment. Nachts. Dann kann er nicht schlafen, liegt wach neben seiner Frau und fragt, was sie denn noch mit ihm wolle, er könne ihr ja nichts mehr bieten. In solchen Nächten weint Herr Huth und ich verstehe: Die hellen Momente sind die schlimmsten.

Letzte Woche hatte Herr Huth die erste Fußpflege seines Lebens. Er saß auf dem Fußpflegestuhl und sagte, als ich seine Füße wusch: „Ick hab Schuhgröße fünfundvierzig. Ick lebe uff großem Fuße.“ Frau Huth und ich kicherten, dann drehte Frau Huth, die auf dem Stuhl am Fenster saß, den Kopf und schaute hinaus. Ich schnitt Herrn Huths Zehennägel, reinigte die Falze, fräste die Kanten. Mit der Hornhautfeile glättete ich die Fersen. Herr Huth schlief. Er sah blass aus und friedlich. Frau Huth holte die Lupe aus der großen Handtasche, betrachtete und befühlte ihre frisch lackierten, korallenroten Zehennägel. „Trocken“, sagte sie und schlüpfte in die weißen Riemchenschlappen. Ich massierte Herrn Huth die Füße, die weich und beweglich waren. Herr Huth erwachte. Er sah sich verstört um, blickte mich an, seine Füße an, wieder mich an. Frau Huth stand auf, ging zum Fußpflegestuhl, nahm die Hand ihres Mannes. Herr Huth erkannte Frau Huth. „Und ick dachte, ick jeh zum Frisör“, sagte er.

In dem Stück von Samuel Beckett warten die beiden Landstreicher Wladimir und Estragon auf Godot. Aber Godot kommt nicht. Seit Warten auf Godot 1953 in Paris uraufgeführt wurde, zerbrechen sich Schauspieler, Regisseure, Dramaturgen, Theaterwissenschaftler und Philosophen den Kopf darüber, wer Godot sein könnte. Ich glaube nicht, dass Herr Huth das Theaterstück kennt. Aber vielleicht ahnt er, wer Godot ist.

Der Parkfriedhof Marzahn abends um acht, fern des Lärms der Stadt. Am Ende eines heißen, staubigen Tages singen die Vögel ihr Abendlied. Die Sonne steht schräg, letzte Strahlen streichen wie Flügel über einzelne Namen auf Steinen. Geharkte Wege. Gegossene Gräber. Brennende Kerzen. Lärchen, Eichen, Kiefern. Ich streife durch Farne, über Wiesen im Schatten. Kühle, Ruhe und Platz. Eine Birke. Eine Bank. Es ist schön, den Tag auf einem menschenleeren Friedhof zu beenden.

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