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Erdbeerarsch mit Schlagsahne

 

Die Nackten fürchteten nichts: weder den Sonnenbrand am Hintern noch die verpasste Bikinifigur, weder die Kollegen noch die DDR. Mein erster Sommer neben dem FFK-Strand

FKK-baden in der DDR: Bikinifigur braucht nur, wer einen Bikini trägt.
Diorama eines FKK-Strandes im DDR-Museum in Berlin (Archivbild) © [M] imago/Steinach/DDR-Museum
Irgendwer musste uns direkt an die Abgrenzung gelegt haben. Ich glaube schon, dass uns dieser Platz gezielt zugeteilt wurde. Wir waren in der DDR, wo Zuteilung bekanntlich großgeschrieben wurde. Wir, zwei Busladungen voller Kinder plus Betreuer eines Ferienlagers, waren in Bansin, einem der drei Kaiserbäder auf Usedom und lagen zwei Wochen lang fast täglich am selben Strandabschnitt. Hinter uns weiße Villen, vor uns die Ostsee und direkt neben uns die größte Ansammlung Nackter, die ich in meinem bisherigen Leben gesehen hatte.

Meine FKK-Erfahrungen stammten ausschließlich aus zweiter Hand. Entgegen einer Legende, die sich nach Mauerfall hartnäckig hielt, verbrachte der Osten seine Freizeit nicht flächendeckend nackt. Es gab Kinder, die begegneten unbekleideten Erwachsenen nur zufällig und wenn, dann vereinzelt. Zu denen gehörte ich.

Ich war acht und mein Bikinioberteil war eine rein symbolische Angelegenheit. Kam man aus dem Wasser, zog man sich unter Handtüchern um. Ging es zurück ins Wasser, wurde wieder gewechselt. Heute frage ich mich weniger, warum ich so scharf auf meinen Bonsai-BH war, sondern eher, warum wir uns ständig umzogen. Vermutlich gehörte das umständliche Rumgehampel zu den stärksten Argumenten für das Nacktbaden.

Bodyshaming kam später

Doch das Nacktsein jenseits der Abgrenzung, die nur aus einem Holzpfahl bestand, war mehr als eine praktische Entscheidung, es war eine Lebenseinstellung. Wir Kinder wussten damals nicht, dass dieser Strandabschnitt ein legendärer Ort war, der es sogar in den SPIEGEL geschafft hatte. Dass man ihm irgendwann den Beinamen „Kamerun“ gegeben hatte, weil hier die wildesten Partys gefeiert wurden – Dresscode Muschelkette und sonst nichts. Und dass man sich das Recht auf freie Körperkultur in der prüden DDR der Fünfzigerjahre erst erkämpfen musste. Als bekannter Widersacher des Nacktbadens galt Johannes R. Becher, Texter der Nationalhymne und damaliger Kulturminister. Ein Mann, der auch uns Nachgeborene noch nervte, indem man uns pro Schuljahr mindestens eins seiner Liebesgedichte an den Staat auswendig lernen ließ.

Jetzt aber hatten wir Ferien. Und alle anderen auch. Die Auswahl an Ferienzielen war begrenzt, die Wahrscheinlichkeit, an den Ostseestränden Kollegen oder Bekannten zu begegnen, dementsprechend hoch. Wem diese Vorstellung unangenehm war, der gehörte eindeutig an einen Textilstrand. Denn die Nackten fürchteten nichts. Sollten nackte Menschen Verletzlichkeit ausstrahlen, dann nicht hier. An diesem Strand beeindruckten sie nicht nur durch ihren Massenauftritt, sondern auch durch ihre enorme Betriebsamkeit. In meiner Erinnerung lag man am Textilstrand herum und las, während man sich am FKK-Strand bewegte. Besonders am Volleyballnetz herrschte Hochbetrieb. Vielleicht war es ein Statement, vielleicht war die Aussage: Seht her, was man nackt alles machen kann – alles! Vielleicht war es auch ein Ausdruck der puren Lebensfreude.

Der Begriff Bodyshaming sollte erst Jahrzehnte später auftauchen. Die Worte Ästhetik und Bikinifigur kannte man schon. Die Ästhetik der ausgehenden Siebziger, beginnenden Achtziger erkannte man am nackten Menschen an den Frisuren. Viel Haar überall, auf dem Kopf oft dauergewellt. Und die Bikinifigur? Braucht eh nur, wer einen Bikini trägt.

Orangefarbene Schaumgummidinger

Neben uns also: Freedom! – I am what I am – hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein. Diese Leute schienen, zumindest kurzfristig, den perfekten Daseinszustand erreicht zu haben. Nicht einmal die Sonne fürchteten sie. Ernsthafter Sonnenschutz war etwas für sehr kleine Kinder, sehr alte Leute und Rothaarige. Alle anderen veranstalteten ein unbeschwertes Barbecue mit sich selbst. Bei etwaigen Verbrennungen wurde großflächig gekühlt, mit Panthenol aus der Sprühdose. Erdbeerarsch mit Schlagsahne.

Wir lernten: Mit der richtigen Einstellung ist es egal, ob man etwas anhat oder nicht. Wir lernten außerdem: Man gewöhnt sich an alles. Ist doch nichts dabei, ist doch ganz natürlich. Die klassischen Mantras der FKK-Anhänger wurden innerhalb kürzester Zeit zur Wahrheit und wir schauten nicht mehr rüber.

Unser Kinderinteresse war weitergezogen. Beim Eiskaufen waren wir auf eine neue Attraktion gestoßen, die das nackte Wimmelbild neben uns weit in den Schatten stellte: Wir hatten den wohl coolsten Typen des heutigen Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern entdeckt. Lässig stand er hinter seinem Stand, der eine Gelddruckmaschine gewesen sein muss, denn es gab auch Buletten und Getränke und keine Konkurrenz. Doch das interessierte uns damals nicht, uns interessierten seine Kopfhörer. Orangefarbene Schaumgummidinger, kleiner als alle, die wir bisher gesehen hatten. Mit diesen Kopfhörern versteht er die Ausländer, mutmaßte meine Ferienfreundin Britta, wie bei Wetten, dass..?.

Der Eismann war die Zukunft

Simultanübersetzungstechnik war an einem Eisstand auf Usedom nicht wirklich nötig. Ab und zu hörte man Tschechisch oder Ungarisch, während die Polen Urlaub an ihren eigenen Stränden machten. Ob man in Swinemünde und Sopot auch so enthusiastisch nackt badete? Ist der Papst evangelisch? Natürlich nicht.

Britta und ich standen also täglich in der Eisschlange und starrten verträumt auf den Verkäufer. Was er da hatte, war der Walkman von Sony. Als ich ihn zum ersten Mal sah, stand er zwischen vergleichsweise klobigen Fernsehern und Radios aus DDR-Produktion und ich wäre vor Verlangen fast mit der Schaufensterscheibe verschmolzen. Immer und überall Kassetten hören – eine sensationelle Idee aus der Zukunft, beziehungsweise aus Japan, die 900 Mark kostete, von denen ich keine Ahnung hatte, wie ich sie auftreiben sollte, bevor ich alt war.

Auch der Mann mit dem Walkman war die Zukunft. Wir wussten es nicht, aber wir ahnten es. Nicht nur technisch spielte er ganz vorn mit, auch mit seiner Attitüde läutete er das neue Jahrzehnt ein. Wortlos reichte er uns unsere Eiswaffeln, abgeschirmt durch seinen eigenen Sound, verschanzt hinter seiner verspiegelten Ray-Ban Pilotenbrille. Er war nicht besonders scharf auf einen Schnack mit Zweitklässlern, verständlich, aber da war noch mehr. Da waren die Achtziger und ein cooler Wind zog auf, zumindest bei Trendsettern wie diesem unvergesslichen Eismann. Was wohl aus ihm geworden ist? Ob er weiterhin Trends setzt? Ob er noch in seine abgeschnittene Levi’s passt? Vielleicht ist er mittlerweile lieber nackt.

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