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Es geht ihnen nicht um Deutschland

 

Alexander Gauland, Björn Höcke, Alice Weidel und all die Neuen Rechten: Was wollen sie eigentlich verteidigen? Sie scheinen nichts an Deutschland zu schätzen, sie scheinen es noch nicht einmal zu kennen.

Kurz vor einer AfD-Demonstration am 1. September in Chemnitz (© Sean Gallup/Getty Images)

Ich frage es mich jedes Mal, wenn ich diese Bilder sehe von wütenden Leuten mit schwarz-rot-goldenen Fahnen oder mit schwarz-weiß-roten, wenn ich in Videos sehe, wie sie ihre Fäuste recken und ihre Ärsche zeigen, wenn ich sie schreien höre, wenn ich sie auf die Straße springen sehe, zu dritt, um einem Mann hinterherzujagen, der etwas dunklere Haut hat als sie.

Ich frage es mich, wenn ich lese und höre, was gewisse Politiker so sagen zu diesen Bildern oder einfach so, weil ja Wahlkampf ist oder Donnerstag oder Herbst.

Ich frage es mich, wenn ich an der Supermarktkasse mein Portemonnaie öffne, um zu bezahlen, und neben der EC-Karte und dem Führerschein blitzt plötzlich ein schmaler Streifen Personalausweis auf und da steht neben dem Wort Bundesrepublik das Wort Deutschland, einfach so, als wäre nichts gewesen.

Ich frage mich dann, ob einer der vielen Empörten, die sich neuerdings vorgenommen haben, dieses Land zu lieben und zu verteidigen bis zum Ende, gegen Linke und Grüne, den Islam und die Medien, gegen Umvolkung, Merkel und Altparteien, ob jemand von diesen Leute zufällig einmal versucht hat, sich vorzustellen, wie das ist, wie viel Mühe es kostet, wie viel Zeit, Kraft und Geduld, einen Menschen großzuziehen, ihm Laufen, Reden und Lesen beizubringen, und dann wird er angeschrien, geschubst und geschlagen und irgendwann sogar erschossen, nur weil etwas an ihm anders ist, der Name zum Beispiel, die Sprache oder die Uniform?

Ich frage mich, ob all diejenigen, die jetzt endgültig keine Lust mehr haben, die deutsche Vergangenheit zu bewältigen, wirklich einmal versucht haben, sich bildlich vorzustellen, wie viele Menschen im Dreck lagen in Europa im Mai 1945, geliebt und vermisst und verzweifelt erwartet, während sie langsam von Maden gefressen wurden, von Würmern und von Bakterien? Ich frage mich, ob sie es schaffen, den Schritt zu denken von 1 zu 50? Und dann den zu 50 Millionen?

Ich frage mich, ob Alexander Gauland, ehe er von Stolz sprach, von Pflicht und Soldaten, zufällig einmal Walter Kempowski gelesen hat, Das Echolot, den Teil über Barbarossa, und darin vielleicht den Tagebucheintrag des jungen russischen Offiziersanwärters, der mit seinen Kameraden im Wald liegt und voller Freude von Lagerfeuern schreibt, von den Sternen am Himmel der Sommernacht, als Sturzkampfbomber ohne Kriegserklärung über die Verbündeten herfallen, brave deutsche Soldaten, die nur Befehle befolgen, und eine Gruppe Heranwachsender bis auf wenige Ausnahmen in dampfende Fleischfetzen verwandeln?

Ich frage mich, ob Björn Höcke, als er Worte wie „Schuldkult“ schrieb für seine Reden oder „Denkmal der Schande„, kurz davor oder danach vielleicht auch der Name Babyn Jar durch den Kopf ging, und ob er dabei vielleicht die Stimmen seiner spielenden Kinder hörte, unten im Haus, und wenn ja, ob er sich dann vielleicht ganz kurz gefragt hat, was eine Frau ihrem Kind wohl sagt, während sie sich vor deutschen Wachen nackt ausziehen muss und dann ihr Kind, und dann legen sie ihre Kleider auf einen riesigen Haufen und sich selbst in eine Grube, auf noch warme nackte Körper? Keine Angst, alles wird gut?

Ich frage mich, wie lange Alice Weidel wohl nachgedacht hat, ob sie es sich wirklich genau überlegt hat, ehe sie sagte, dass die Faschisten von gestern die Antifaschisten und Gutmenschen von heute seien, und ob sie sich wohl zufällig gefragt hat, wie es ihr und ihrer Lebensgefährtin ergangen wäre unter jenen echten Faschisten von gestern, deren Fahnen und Gesten heute wieder offen auf der Straße gezeigt werden, neben und vor und hinter Transparenten mit dem Schriftzug ihrer Partei?

Und dann frage ich mich, ob diese Leute eigentlich irgendetwas über Deutschland wissen. Ob sie irgendetwas an Deutschland schätzen. Ob sie irgendetwas an Deutschland interessiert.

Ich denke nicht.

Denn wenn sie etwas über Deutschland wüssten, müssten sie die historische Chance nutzen und helfen, die Werte, denen sich dieses Land nach unvorstellbaren Verbrechen und großen Opfern verpflichtet hat, gemeinsam mit einem geeinten Europa zu verteidigen gegen religiösen und wirtschaftlichen Fanatismus.

Wenn sie etwas an Deutschland schätzen würden, wären sie stolz auf sein Grundgesetz und sie würden alles tun, um dessen erstem Artikel zu mehr Geltung zu verhelfen, jeden Tag in Wort und Tat und Gedanken: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Wenn sie sich wirklich für Deutschland interessieren würden, würden sie echte Lösungen vorschlagen für echte Probleme wie soziale Ungleichheit, Klimawandel oder Steuerbetrug, statt ein neoliberales Wirtschaftsprogramm hinter nationalen Rauchbomben zu verstecken.

Wenn sie sich die Mühe gemacht hätten, sich einmal gründlich zu beschäftigen mit diesem Land, mit seiner Geschichte, seiner Gegenwart und seiner Zukunft, würden sie wissen, dass deutsch sein heute vieles bedeutet, aber vor allem eins:

Niemals zu vergessen, wozu Menschen fähig sind, die sich für überlegen halten.

Aber ganz offenbar denken die neuen, selbst ernannten Verteidiger Deutschlands nicht so gerne nach, ehe sie sprechen. Sie schreien lieber gleich los. Sie meckern und jammern und heulen, wirres, zusammenhangloses Zeug, in einer Sprache ohne Maß, ohne Vernunft.

Ich verstehe nicht, was sie sagen oder warum.

Aber ich weiß eins: Es geht ihnen nicht um Deutschland.

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