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Wo die Dinge ein Ende finden

Die Wilderer, das Wildschwein und Bismarck

 

Zuerst war es eine Ratte, dann kam Django hinzu: Ulrich Ladurner betrachtet Hamburg aus ungewöhnlichen Perspektiven, mal erfindet er was, mal nicht, aber immer lässt er sich von grob unterschätzter Wirklichkeit inspirieren. Seine neuen Hamburger Geschichten spielen immer dort, wo Dinge ein Ende finden – ein Weg oder eine Straße, ein Fest oder Ferien, das Leben, die Liebe. In der ersten Folge geht es um zwei Wilderer, die Otto von Bismarck fast davon abhalten, seine Memoiren zu schreiben.

wildschwein
(c) Ulrich Ladurner

Im Sommer 1890 verendete ein prächtiger Eber im Sachsenwald bei Hamburg. Zwei Wilderer hatten ihm aufgelauert und ihn angeschossen. Das schwer verletzte Tier lief brüllend eine Böschung hinunter an das Ufer der Bille, wo es stürzte und röchelnd liegenblieb. Die Wilderer fürchteten sich vor den mächtigen Hauen des waidwunden Ebers und näherten sich ihm daher sehr vorsichtig. Als sie etwas mehr als einen Meter von dem sterbenden Tier entfernt waren, ging ein plötzliches Zucken durch den riesigen, behaarten Körper. Fälschlicherweise glaubten die Wilderer, die trotz ihrer blutrünstigen und gesetzeswidrigen Tätigkeit von ängstlicher Natur waren, der Eber wolle aufspringen, um sie anzugreifen. Darum gaben sie mit ihren großkalibrigen Gewehren mehrere Schüsse auf das sterbende Tier ab.

Die Kugeln rissen große Löcher in das Fleisch ihres Opfers, noch immer ging ein Zittern durch seinen Körper. Die Wilderer machten sich schnell an die Arbeit, denn sie fürchteten, dass bald schon Förster kommen würden, um nach dem Rechten zu sehen.

Es war in diesen Tagen offiziell ja keine Jagd angesagt. Die Wilderer banden die Fesseln des Tieres zusammen, hängten es an einem dicken Stock auf und trugen es die Böschung hinauf, wo sie bald im dichten Wald Richtung Hamburg verschwanden. Ihnen gelang die Flucht, doch konnten sie nicht wissen, was sie mit ihrer Wilderei ausgelöst hatten.

Der laute Knall der Schüsse hatte nämlich Otto von Bismarck aufgeschreckt, der nicht weit entfernt in seinem Arbeitszimmer im Anwesen Friedrichsruh an seinem Schreibtisch saß und mit einem Mann namens Lothar Bucher über seine politisches Leben diskutierte. Bismarck war gerade mitten in einer langatmigen Erörterung über die Natur der Macht und ihren Gebrauch als der Donner der Schüsse durch das offen stehende Fenster rollte.

„Nicht mal hier in Friedrichsruh habe ich meine Ruhe“, rief Bismarck empört.
„Zwei Schüsse, mehr nicht. Lassen Sie sich nicht ablenken…“, antwortete Bucher, Bismarcks persönlicher Assistent.
„Wie soll ich bei diesem Lärm arbeiten … es ist doch ohnehin verlorene Mühe…!“
„Nein, überhaupt nicht. Es ist wichtig, dass Sie ihre Memoiren jetzt schreiben. Deutschland, ja ganz Europa wartet darauf!“
„Ach was, das ist doch nur Ihre Erfindung. Wen interessiert schon, was ich schreibe“, rief der Reichskanzler außer Dienst.

Er war vor ein paar Wochen erst, nach mehr als 28 erfolgreichen Jahren zunächst an der Spitze Preußens und dann Deutschlands, von dem jungen, eitlen Kaiser Wilhelm II. gegen seinen ausdrücklichen Willen entlassen worden. Die Schmach hatte Bismarck noch nicht überwunden. Sie bedrückte ihn und hinderte ihn immer wieder daran, die sofort nach seiner Entlassung auf Drängen Buchers angegangene Arbeit an seinen Memoiren mit gewohntem Schwung fortzuführen.

Es reichte der geringste Anlass, und Bismarck ließ lustlos die Feder fallen. Diesmal war es das Krachen der Schüsse.
„Was denken Sie, Herr Reichskanzler (Bucher nannten Bismarck immer noch so), ist da draußen geschehen?“
Bismarck dachte lange nach und sagte dann: „Ich weiß es nicht!“
„Wahrscheinlich waren da Wilderer am Werk!“, sagte Bucher.
„Wilderer! In meinem Wald! Das ist unerhört!“

Bismarck wollte sofort eine Abteilung preußischer Grenadiere losschicken, um die Wilderer zu fangen und sie standrechtlich erschießen zu lassen. Doch bevor er zur Klingel griff, fiel ihm ein, dass er niemandem mehr etwas befehlen konnte, außer seiner Frau, seinen Kindern, Enkelkindern und Haustieren, die ihm aber auch nicht immer folgten. Keine preußischen Grenadiere, keine Generäle, keine Minister – niemand mehr musste sich unter seiner Fuchtel beugen.

Da sackte Bismarck in sich zusammen und flüsterte: „Ach, es ist alles verloren. Alles ist verloren!“
Bucher wollte seinen Herren davor bewahren, vollends in lähmenden Trübsinn zu versacken.
„Mein Herr, vergessen Sie Ihre Leistungen nicht. Vergessen Sie nicht, wer Sie sind!“
Bismarck blickte ihn mit traurigen Augen an: „Ja, und wer bin ich?“
Bucher: „Sie haben die Sozialisten erfolgreich bekämpft!“
Bismarck machte eine schwache Bewegung mit der Hand:
„Ach, na und?“
Bucher ließ sich nicht beirren.
„Machen Sie sich Mut. Erinnern Sie sich doch: Sie haben Deutschland geeint!“
Bismarck: „Ja, und wer dankt es mir?“
Bucher: „Sie haben das Deutsche Reich gegründet!“
Bismarck: „Naja, das klingt ein bisschen besser, als es in Wahrheit ist.“
Bucher: „Sie haben den Kaiser der Franzosen besiegt!“
Bismarck: „Das war ohnehin eine schwacher Kerl, ein windelweicher Franzmann.“

Doch so sehr er ihn auch abtat, beim Gedanken an Napoleon III. regten sich Bismarcks Lebensgeister wieder. Der glänzende Sieg auf dem Schlachtfeld, die Verkündigung der deutschen Reichsgründung im Versailler Spiegelsaal. Die Erinnerungen daran wurden in Bismarck wach und leuchteten für einen kurzen Moment sein düstere Seele aus.

Bucher bemerkte dies und fachte das Feuer kräftig an: „Und Sie, Sie Sozialistenfresser, Reichsgründer, Franzmannbesieger, Sie wollen sich von ein paar Wilderern aufhalten lassen!“
Nein, das wollte Bismarck nicht.
„Niemals! Niemals!“, rief Bismarck und griff in frischer Kampfeslust zur Feder.

Und zur Erinnerung daran, wie der Tod eines Ebers im Sachsenwald fast dazu geführt hätte, dass die Nachwelt auf Bismarck Memoiren hätte verzichten müssen, hängt der Kopf des besagten Ebers in den Toilettenräumen im Forsthaus Friedrichsruh.

Friede seiner Eberseele!