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Wo die Dinge ein Ende finden

Wie Jan von der HSV-Erde verschluckt wurde

 

Zuerst war es eine Ratte, dann kam Django hinzu: Ulrich Ladurner betrachtet Hamburg aus ungewöhnlichen Perspektiven, mal erfindet er mehr, mal weniger, aber immer lässt er sich von grob unterschätzter Wirklichkeit inspirieren. Seine neuen Hamburger Geschichten spielen immer dort, wo die Dinge ein Ende finden, beim dicken Herrn Maibaum, in Francos Traum, bei der einsamen Frau Kruse und dem ewig fluchenden Helmut Schausten. Hier lesen wir die Geschichte von Jan Weiden.

De Mortuis nihil nisi bene – über die Toten soll man nur in guter Weise reden. Das war der einzige Satz, der Jan Weiden vom jahrelangen Lateinunterricht am Gymnasium geblieben war. Es war eine im wörtlichen Sinne umkämpfte Schulzeit gewesen, denn Jan Weiden kämpfte mit dem Stoff, mit den Lehrern, mit den Mitschülern, am meisten aber rang er mit seinen Eltern, die er schamlos belog und hinterging. Das Abitur überstand er mit Ach und Krach.

Die langmütigen Eltern boten ihm danach an, ein Studium zu finanzieren. Jan schrieb sich an der Hamburger Uni ein, Studienfach Psychologie, zeigte seinen Eltern das entsprechende Dokument, nahm das Geld und versoff es dann systematisch auf dem Kiez. Seine Eltern taten so, als merkten sie nichts. Erst als Jan Weiden zu Hause das Mobiliar zerschlug, riefen sie die Polizei. Jan Weiden erhielt Hausverbot. Da war er gerade 22 Jahre alt und für ein geordnetes bürgerliches Leben verloren.

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Auf dem Grabfeld (c) Ulrich Ladurner

Auf dem Kiez fand er eine Bleibe und Gelegenheitsarbeiten, die gerade genügend Geld abwarfen. Das reichte ihm, er war ohne jeden Ehrgeiz, nur beim Trinken legte er sich ordentlich ins Zeug. Der viele Alkohol vernebelte sein Hirn, schwemmte seinen Körper auf und färbte sein Gesicht dunkelrot. Mit 33 war er dem Tod näher als andere mit 85.

Jan Weiden war unbestreitbar ein Kotzbrocken, aber er hatte Freunde – genau zwei, Ole und Martin. Sie hatten eine gemeinsame Leidenschaft: St. Pauli. Kein Heimspiel verpassten sie. Auswärtsspiele konnten sie sich nicht leisten. Sie standen in der Kurve Süd, Stehplatz.

Jan schrie: „Lauf, fauler Sack, lauf!“
Ole schrie: „Schieß doch, du Banause, schieß doch!“
Martin schrie: „Kackfussballer, ihr Kackfussballer!“
Die drei hielten es für den Ausdruck ihrer innigen Liebe zum Verein, wenn sie dessen Spieler beschimpften. Es klang wie Hass, was sie da zum Ausdruck brachten, aber es war keiner. Je unflätiger die Schimpfwörter, desto größer ihre Zuneigung. Hass, den empfanden sie für den HSV – ein brennendes, nie versiegendes Gefühl, das sie immer wieder dazu antrieb, diesem „Scheißverein!“ eine auszuwischen. Dabei fehlte es ihnen nicht an Fantasie.

„De Mortuis nihil nisi bene – über die Toten soll man nur in guter Weise reden!“, skandierte Jan Weiden laut.
Ole fragte: „Was sagst du?“
„De Mortuis nihil nisi bene – über die Toten soll man nur in guter Weise reden!, rief Jan Weiden.
„Was? Was?“, fragte Ole wieder.
„Er redet von den Toten, du Trottel!“, ging Martin dazwischen.
„Tote, warum Tote?“
„Sind wir auf einem Friedhof, oder etwa nicht?“, sagte Martin und verpasste Ole eine Kopfnuss.
Der presste mit zusammengebissenen Zähnen ein paar Worte hervor „Scheißfriedhof! Scheiß HSV-Friedhof!“

Es war Nacht, es war dunkel, es war kalt, am Himmel hing ein schmutziger Mond. Jan hatte sich etwas Besonderes ausgedacht. „Wir statten mal den toten HSV-Fans einen Besuch ab!“ Natürlich war er sternhagelvoll, als er dies vorschlug. Ole und Martin waren es ebenfalls, weshalb sie begeistert zustimmten.

Nun liefen sie auf dem Gräberfeld des HSV herum und wussten nicht recht, wie sie auf einem Friedhof dem HSV etwas heimzahlen sollten.
„Viele Gräber gibt es hier ja nicht“, sagt Ole und schaute sich um.
„Ja, die HSV-Fans leben alle noch“, sagte Martin und war sich selber nicht im Klaren darüber, ob das nun witzig war oder nicht.
Sie überlegten noch ein wenig, was sie hier Schlimmes anstellen konnten. Doch es fiel ihnen nichts ein. Keiner wollte es zugeben, aber es war ihnen ein wenig unheimlich zumute. Sie stapften über das fast leere Gräberfeld.
„Komm“, sagte Ole zu Jan, „du hast doch studiert, wie war das noch mal mit den Toten?“
„De Mortuis nihil nisi bene!“, rief Jan laut und nicht wenig stolz auf sich.
„Meinst du, HSV-Fans verstehen Latein?“, fragte nun Martin.
Ole grinste. „Die Toten vielleicht! Komm Jan, sag noch was auf Latein!
Jan wühlte in seinem modrigen Gedächtnisschrank.
„Agricola … Agricola arat!“
Was soll das denn heißen?“, fragte Martin.
„Der Bauer pflügt!“
„Der Bauer pflügt? Was ist denn das für ein sinnloser Satz, kannst du nicht ….“, Martin kratzte sich am Kopf, “ … kannst du nicht etwas für den Ort passenderes sagen? Sowas mit Toten, wie dieser eine komische Satz …“
„De Mortuis niesen Penne …“, rief Ole dazwischen.
„Ja, genau! So was!“
Jan schüttelte sich, in seinem Gedächtnisschrank rumpelte es gewaltig. Er blickte zum Himmel hoch, dann hinunter zur Erde und schrie laut auf die geheiligte HSV-Erde nieder.
„De Profundis Clamavi ad te St. Pauli!“
Ole und Martin klatschten begeistert Beifall.
„Und? Was heißt das? Sag schon! Es klingt, es klingt … ein Hammer ist das!“
Jan holte Luft und übersetze schreiend: „Aus der Tiefe rufe ich zu Dir, Herr, St. Pauli!“

Da öffnete sich unter Jans Füßen die Erde und verschluckte ihn.
Ole und Martin starrten ungläubig auf den Boden.
„Sieh mal“, sagte Ole.
„Was?“
„Sie schmatzt?“
„Was?“
„Die Erde schmatzt!“
Tatsächlich kaute der Boden etwas.
„Du hast Recht!“
Ole und Martin wurden blass.
„Los, lass uns abhauen!“, sagt Ole.
„Und Jan?“, fragte Martin.
„Jan, der ist … „, bevor er den Satz zu Ende sprechen konnte, gab die schmatzenden Erde einen gewaltigen Rülpser von sich, gefolgt von einem Luftzug, der bestialisch stank. Schreiend liefen Ole und Jan davon. Noch bevor sie das HSV-Gräberfeld verlassen konnten, hatte die geheiligte HSV-Erde den blasphemischen St. Pauli-Fan namens Jan Weiden schon verdaut.