Anhänger des Vorstadtvereins verspotten den FC St. Pauli oft als „Modelabel mit angeschlossener Fußball-Abteilung„. Ein Bild, das auch Fabian Boll Mittwoch zitierte, als im Rahmen der „Langen Nacht der ZEIT“ in der St. Pauli Kirche über die liebenswerten und auch widersprüchlichen Seiten des Fußballs im Allgemeinen und des FC St. Pauli im Besonderen diskutiert wurde. Zu Tage trat eine Ambivalenz, die tatsächlich nur noch wenig mit modernem Fußball zu tun hat. Der Stadtteil und der Kiezclub machen sich vielleicht sogar auf, zu einer gesellschaftlichen Kraft zu werden – mit internationalem Potenzial.
Ich trinke noch ein schnelles Bier in der Amphore und schlendere dann durch den Gezi Park Fiktion zur St. Pauli Kirche. Der Frühling schickt Sonne und nordafrikanischen Sand über die Elbe. Viele St. Paulianer sitzen unter den Palmen aus Stahl und blinzeln in die Nachmittagssonne, als sich Fabian Boll, Mittelfelder des FC St. Pauli, Benny Adrion, ehemaliger Mittelfelder des FC St. Pauli, Thees Uhlmann, Barde des FC St. Pauli und Maarten, Organisator des Zeckensalons beim FC St. Pauli im Schiff der Kirche zu einer der vielen Veranstaltungen zusammensetzen, die den Start der Hamburg-Ausgabe der ZEIT begleiten. Der Moderator Urs Willmann, ein österreichischer schweizer Arbeitsimmigrant und Redakteur bei der ZEIT, ist ebenfalls St. Pauli Fan; das passt.
Als ich durch die Embassy of Hope zum Kircheneingang gehe, durch das offene und öffentliche Wohnzimmer der Gruppe Lampedusa in Hamburg, fällt mir diese Ambivalenz direkt ins Auge, um die es gleich gehen wird: drinnen sitzen fünf weiße Männer und hier draußen wohnen ein gutes Dutzend schwarze – auch weil die St. Paulianer drinnen sie nicht der Senatsbürokratie überlassen wollten. Ein lebendiges Beispiel der Kraft, die zwischen Stadtteil, dem Verein und wieder zurück in den Kiez wirkt, sagt Maarten vom Zeckensalon später.
Die Wirkung dieser Kraft lässt nach, befürchtet Thees Uhlmann, je weiter man sich vom Kiez weg bewegt. Angestrengt und immer wieder bekehrt er Prenzlberger Szenegänger in seiner Wohnheimat Berlin, wenn er fühlt, dass hinter dem Schick die Anliegen des FC St. Pauli verloren gehen. Und doch ertappt er sich dabei, dass auch er sich manchmal wünscht, „einfach nur ein wenig am Zaun zu rütteln und ab und an zu gewinnen“. Der St.-Pauli-Fan (’Sankt Pauli’, soviel Zeit muss sein) ist diese Ambitendenz gewohnt, verspürt einerseits den Wunsch, ein ganz normaler Fußballfan zu sein und andererseits drängt es ihn und sie zu gesellschaftlichem Gestalten. Die lokale Perspektive und die internationale Resonanz komplettieren dieses Zwiegefühl, das schon anstrengend sein kann – und ansteckend.
Junge Fußballer werden hier auch in alternativen Lebensweisheiten „ausgebildet“‚ und tragen dies dann in die Welt, wie das Beispiel von Ralle Gunesch beim FC Ingolstadt belegt, berichtet Fabian Boll; und Benny Adrion sieht in der Entstehungsgeschichte von Viva Con Agua den Beweis, dass der „Mythos“ lebt. Ich schnappe mir noch ein Shuttle-Bier und schlucke meine Widerworte mit ein paar kräftigen Schlucken hinunter.
Mache mich auf den Weg ins Haus 73 am Schulterblatt, wo die ZEIT-Autorinnen Özlem Topçu und Khue Pham über eine andere Form der Ambivalenz lesen: über das Leben als „Wir neuen Deutschen“ – langsam beginne ich mich wieder wohl zu fühlen in dieser Zwiespältigkeit.