Der FC St. Pauli gewinnt mithilfe des Bodens, die Ackerscholle schießt das Tor gegen Eintracht Braunschweig. Der FC bleibt damit Aufstiegskandidat.
Abgelenkt, dachte ich. Von einem Gegenspieler. Ich konnte zwischen den schwarzen, vor mir herumhoppelnden Mützen nicht erkennen, wer den relativ harmlosen Schuss von John Verhoek plötzlich scharf und gefährlich gemacht hatte. Und als der Ball überraschend im Netz der Braunschweiger zappelte, da war an eine kontrollierte Wahrnehmung der Geschehnisse an diesem Donnerstagabend sowieso nicht mehr zu denken. Das Stadion, in dem zuvor 81 Minuten lang dürftige Fußballkost gezeigt worden war, kochte plötzlich über.
Erst Minuten später verbreitete sich auf der Tribüne das Gerücht, wer im Prinzip unseren Treffer erzielt hatte. Es war der Boden. Er hatte dem so lange glücklosen Stürmer Verhoek beim Torschuss assistiert. Eine Scholle unseres Ackers am Millerntor also gab dem Ball in der 82. Minute eine Wendung. Und damit unserem Schicksal. Sie lenkte die luftgefüllte Kunststoffkugel an Torhüter Gikiewiczs Schulter. Von da sprang der Ball ins Tor und bescherte uns drei Punkte. Statt sich aus dem Aufstiegsrennen zu verabschieden, bleibt der FC St. Pauli oben dran und damit mittendrin.
Der im Stadion in Sekunden vollzogene Stimmungswandel von Depression zu Euphorie ergriff sogar die Meckerecke. Die Meckerecke steht auf der Gegengeraden immer neben mir. Sie meckert ununterbrochen und heißt Carlos – erfahrene Leser dieser Kolumne mögen sich erinnern.
Dieser Carlos war am Donnerstagabend 81 Minuten lang in seinem Element gewesen (so sehr, dass Jürgen sich um ihn Sorgen machte: „Pass auf dich auf, Stress ist ungesund!“). Carlos hatte fast ununterbrochen geledert: „Die fallen immer nur um“, „Schießbudenfigur“, „Ist das schlecht!“. Auch sein Zigarillokonsum erreichte gesundheitsgefährdende Ausmaße.
Doch nun, nach diesem Zufallstor, verwandelte sich Carlos in ein Wesen, dessen Eigenschaften sein Charakter bislang nicht vorgesehen hatte. Carlos mutierte schnurstracks zu einer milde gestimmten Stütze der Mannschaft. „Das war ein Scheißspiel“, sagte er mit freundlicher Analytik, „aber eine wahre Spitzenmannschaft gewinnt eben die schlechten Spiele“.
Ich putzte mir die Ohren, weil ich glaubte, mich verhört zu haben. Hatte Carlos seine eigene Mannschaft Spitzenmannschaft genannt? Er hatte!
Als hochgradig verwirrter Mensch beobachtete ich die erstaunliche Verwandlung weiter. Carlos kehrte auch nicht zum Meckern zurück, als die Mannschaft nach Abpfiff bejubelt wurde. Ja, er applaudierte mit – Scheißspiel hin oder her. Am Ende sang er sogar. Nicht richtig, aber dafür laut.
Die Meckerecke war zahm geworden. Bemerkenswert, dachte ich, was ein Loch im Platz aus einem Menschen machen kann. Und am Tag danach stellte ich noch ungläubiger fest, was dieses eine Dusseltor bewirkt. Es hatte nicht nur ein schreckliches Spiel in ein historisches Ereignis verwandelt, sondern die ganze Stimmung rund um den Verein ins Positive kippen lassen. Eben noch waren in den Medien das drohende Auseinanderfallen der Mannschaft beklagt und weitere Abgänge prophezeit worden. Nun, am Freitagmorgen, quillen die Zeitungen wieder über vor lauter Zuversicht, dass dieses glorreiche Spitzenteam zusammenbleibt: „Buchti bleibt“, ist zu lesen. Und: „Zaubert Ratsche auch nächste Saison am Millerntor?“ Und Alushi, 24 Stunden zuvor fast schon verabschiedet, betont plötzlich, wie wohl er sich in Hamburg fühle.
Eine erstaunliche Wirkung für eine Ackerscholle. Möge sie weiterhin gute Spiele zeigen.