Eine siegreiche Nervenschlacht leistete sich der FC St. Pauli gegen Bielefeld. Unsere Autorin blieb dabei cool – ihr Pendant auf der Gegengeraden nicht so.
In der 55. Minute brauche ich Erklärungshilfe von Ana. Buchtmann hatte am anderen Ende des Stadions perfekt auf Choi gepasst. Der schob den Ball zum 2:1 ins Tor. Zumindest zum vermeintlichen 2:1. Doch der Jubel stirbt ab. Kein Song 2 von Blur wird eingespielt – wie jeweils nach St.-Pauli-Treffern. Der Schiedsrichter gibt Freistoß für Bielefeld. Irgendwas hatte ich nicht mitbekommen.
„War das Abseits?“, frage ich Ana in einer SMS.
Sekunden später die Antwort: „Woher soll ich das wissen?“
„Du stehst in der Südkurve direkt hinterm Tor! Hattest alles vor deiner Nase.“
„Natürlich krieg ich hier alles mit. Hier ist nicht öde Gegengerade, hier ist Süd!,“, schreibt Ana.
„Dann erzähl endlich, was los war!“
„Auf dem Zaun steht der Vorsänger, um mich rum wogt das Fahnenmeer, und vor mir stehen Ultras: zwei richtige Schränke, mindestens zwei Meter groß. Ansonsten habe ich glasklare Sicht. Keine Wolken am Himmel.“
Ich gebe es auf. Werde wohl erst nach dem Spiel mithilfe der Glotze erfahren, ob Schiedsrichter und Schiedsrichter-Assistent sich erneut einen Fehlentscheid geleistet haben. Ärgerlich. Die hatten uns in der ersten Halbzeit schon einen Elfer verwehrt (Foul an Bouhaddouz). Würden nicht die Unparteiischen permanent die Vorentscheidung zu unseren Gunsten verhindern, führten wir längst gegen diese Ostwestfalen mit ihrer doppelten Viererkette. Abgesehen von den ersten zwanzig Minuten machen unsere Jungs nämlich ein gutes Spiel. Tore jedoch bleiben wohl weiterhin eine Seltenheit in dieser Saison. Ich schaue auf die Uhr: Noch haben wir eine halbe Stunde Zeit für den ersten Dreier.
Ana meldet sich: „Könnt ihr bei euch drüben nicht endlich auch mal anfeuern? Ihr steht auf eurer Tribüne wie eine Versammlung von Beruhigungspillen.“
„Meine Aufgabe ist nicht die Stadionbeschallung, sondern die Analyse des Spiels“, antworte ich. Carlos, die Meckerecke, hilft mir dabei. Es gibt heute viel zu analysieren. Zum Beispiel: Warum fällt nicht endlich das hoch verdiente Siegtor für uns? Noch 15 Minuten.
„Wir geben hier in der Süd alles“, antwortet Ana, „wusstest du, dass wir jetzt auch recyceln?“
„Dann besorg uns ein paar Tore aus der letzten Saison.“
„Ich rede von Fankultur! Unser Lied gegen den HSV können wir bekanntlich seit geraumer Zeit im Stadion nicht bringen. Heute aber passt es perfekt, um die Arminia zu ärgern: Schwarz-Weiß-Blau mag keine Sau, FC St. Pauli ist euer Super-GAU …“
Mittlerweile ist mir jedes Mittel recht. Warum nicht mit aufgewärmtem, philosophischem Liedgut die ersten Punkte herbeisingen? Mittelfristig stimmt mich allerdings unser neuer Stürmer Bouhaddouz hoffnungsvoller. Der hat aus vier Chancen immerhin ein Tor gemacht. Der marokkanische Nationalspieler ist häufig anspielbar, er zeigt im Strafraum eine unglaubliche Präsenz, und beim 1:0 hat er den Bielefelder Keeper ziemlich cool mit einem Übersteiger ins Leere laufen lassen. „Mit dem neuen Stürmer wird das was, wenigstens in Zukunft“, sage ich zu Carlos, zwei Minuten vor Schluss. Ich ernte ein Grummeln.
Etwas euphorischere Zustimmung erwarte ich von Ana. Ich simse ihr meine klugen Überlegungen: „Stürmerproblem mittelfristig gelöst.“
Bevor ich eine Antwort erhalte, löst sich unser akutes Stürmerproblem bereits kurzfristig. Tor in der 90. Minute. Daran beteiligt: natürlich Bouhaddouz. Er legt mit dem Kopf auf unseren zweiten Nationalspieler im Sturm ab. Und Sahin schiebt das Leder über die Linie.
Ein Sieg in der Schlussminute. Wie schön! Aber warum nicht früher? Das Spiel hat mich fertiggemacht. Ich muss mich hinsetzen.
„Geht doch!“, schreibt Ana. „Warum in eineinhalb Stunden erledigen, was man locker in den letzten Sekunden hinbekommt?“
Ich kehre meine letzten intakten Nervenfasern zusammen, schalte von Fast-Verzweiflung wieder um auf Analytik und tippe eine SMS von berauschender Klarheit: „Warum am ersten Spieltag Punkte sammeln, wenn 31 Spiele für den Aufstieg reichen?“