Was wäre, wenn am Millerntor nicht mehr gekickt würde? Ganz einfach: Dann lebt der Club eben vom Mythos seiner widerspenstigen Fanszene. Den kennen sogar Trump-Gegner.
In letzter Zeit läuft es sportlich ja wieder etwas runder beim FC St. Pauli. Trotzdem kann einem diese Saison schon angst und bange werden, wenn man an die Zukunft des Vereins denkt. Ich mache mir allerdings keine Sorgen mehr um meinen Kiezklub, selbst wenn er noch so schlecht Fußball spielt. Und das liegt an einem Gespräch, das ich vor einigen Wochen mit Willi geführt habe, meinem Nebensteher auf der Gegengeraden.
Der FC St. Pauli hatte mal wieder ein Heimspiel verloren, obwohl die Kiezkicker gut gespielt und sich ein Unentschieden verdient hatten. Ich stand mit Willi vor der Domschänke, als dieser einen denkwürdigen Vorschlag machte, vermutlich, um mich aufzuheitern: „Wenn St. Pauli absteigt, dann können wir uns eigentlich auch ganz vom Spielbetrieb abmelden. Dann könnten wir am Millerntor Konzerte veranstalten. Bei denen kann man nicht verlieren, nur gewinnen“, sagte er.
So weit hergeholt, wie er mir auf den ersten Blick erschien, ist der Gedanke gar nicht. Zwar will niemand beim FC St. Pauli die Profimannschaft aufgeben, energisch arbeiten alle Angestellten vom Präsidenten bis zum Greenkeeper am Klassenerhalt. Auch im Falle eines Abstiegs würden am Millerntor die Flutlichter nicht ausgehen, da bin ich mir sicher. Der Gedanke aber, dass hinter St. Pauli mehr steckt als Fußball, ist es wert, weitergedacht zu werden.
Der Klub, besser der Mythos St. Pauli, hat weltweit schätzungsweise elf Millionen Sympathisanten. Beim Verkauf der Totenkopf-Shirts, dem offiziellen Merchandise, steht der Klub auf einem Tabellenplatz, der zur Teilnahme an internationalen Wettbewerben berechtigt. Mit dem sportlichen Erfolg des Klubs ist das nicht zu erklären.
Der Jolly Roger ist auf jeder linken Demo zu sehen; in der Schanze genauso wie in Athen oder in New York, wo St. Pauli T-Shirts derzeit bei Trump-Gegnern gerade sehr en vogue sind. Es gehört zum Gründungsmythos der Marke St. Pauli, dass der Verein eine eindeutig linke politische Haltung einnimmt. Die Mitglieder des FC St. Pauli engagieren sich für Flüchtlinge, organisieren namhafte Kunstausstellungen wie die Millerntor Gallery und legen sich regelmäßig mit dem politischen Establishment an. Diese Haltung hat sich herumgesprochen und St. Paulis Totenkopf bekannt gemacht – auch international.
Im vergangenen Herbst ist der US-Shop des FC St. Pauli online gegangen. Begleitet wurde der Start der Tour einer Punkband durch die USA. Einen Bezug zum Bundesliga-Fußball sucht man vergebens. St. Pauli funktioniert in den USA einzig über den Mythos seiner widerspenstigen Fanszene. Kein Wunder, dass der amerikanische Partner der Kiezkicker ein Spezialvermarkter für Rockbands ist.
Der FC St. Pauli ist mit den Verkaufszahlen der ersten drei Monate hoch zufrieden, erzählte mir ein Vereinsmitarbeiter kürzlich. Der Umsatz übersteige den von etablierten Champions-League-Teilnehmern deutlich, freut man sich am Millerntor.
St. Paulis Totenkopf ist in der Popkultur angekommen
Zumindest in den USA ist Willis Vision also schon Wirklichkeit. Der Totenkopf, der aus der Hamburger Hafenstraße einst seinen Weg ans Millerntor fand, ist längst zur Popikone geworden. In einer Linie mit Che Guevaras Antlitz und Kurt Cobains Konterfei.
Der Vorteil für den FCSP liegt auf der Hand: Es gibt keinen Abstieg aus der Rock ’n‘ Roll-Liga, zumindest keinen sportlichen. Da liegt der Gedanke doch nahe, den Erfolg aus den Vereinigten Staaten auch ans Millerntor zu übertragen.
Ein Gedankenexperiment: Der FC St. Pauli hat die Genehmigung für 19 Veranstaltungen im Jahr. Das sind derzeit die 18 Heimspiele, plus ein Spiel für die mögliche Relegation. Wenn ich mir vorstelle, dass diese Termine statt mit drögem Gekicke mit Konzerten und Happenings ausgefüllt werden würden, mache ich mir plötzlich keine Sorgen mehr. Der Gedanke reizt mich sogar.
Es ist mir traditionell beinahe egal, in welcher Liga der magische FC St. Pauli spielt, das habe ich mit vielen Anhängern gemein. Dass es mir nun auch einerlei sein könnte, ob er überhaupt noch Fußball spielt, ist dank Willis Kommentar zur letzten Heimniederlage zumindest vorstellbar. Der Stress, der traditionelle Fußballanhänger bei einem drohenden Abstieg befällt, wird nun besser zu ertragen sein.
Ich weiß nun: Zur Not spielen wir auf St. Pauli eben Bassgitarre statt Steilpass.