Gegen 1860 München dreht der FC St. Pauli ein schwieriges Spiel und bringt seine Fans in eine ungewohnte Situation. Wie umgehen mit fünf Spielen ohne Niederlage?
Es wird zu viel des Guten. Erst brauchen wir ein Dutzend Partien, um überhaupt mal wieder zu gewinnen, dann legen wir gleich eine Serie mit fünf Spielen ohne Niederlage auf den Rasen. Und jetzt will dieser positive Lauf einfach nicht mehr abbrechen. Wie soll man als St.-Pauli-Fan plötzlich mit so einer Situation umgehen können? Eine Identitätskrise droht. Es sei denn, wir schaffen es, uns mental auf eine Zukunft als Seriensieger einzustellen.
Am Samstag ging es auswärts gegen 1860 München. Besonders gut lief es in der ersten halben Stunde nicht, die Partie nahm eher den traditionellen Gang. Die Löwen setzten uns von Anfang an mit Pressing unter Druck. Das 1:0 in der 27. Minute: verdient. Bei so einem Rückstand im fremden Stadion in der ersten Hälfte lehnt sich der erfahrene St.-Pauli-Fan normalerweise zurück. Er versucht, sich innerlich mit der Tatsache vertraut zu machen, dass die Siegesserie nun wohl leider vorbei sei.
Nicht so ein kleiner Junge im Hamburger Schanzenviertel. Ganz vorne stand er, vor der Leinwand in der Sportfrikadelle an der Bellealliancestraße. Mit überzeugten „St. Pauliiii“-Rufen, die bestimmt bis in den Süden der Republik zu vernehmen waren, feuerte der Knirps die Mannschaft auf der Leinwand an. Er wurde erhört. In der Münchner Ferne setzte sich Waldemar Sobota in der 36. Minute durch. Er ballerte aus 25 Metern Entfernung Richtung Tor, worauf das abgelenkte Geschoss an der Hand von Abwehrspieler Ba landete – Elfmeter für Braunweiß.
Kapitän Lasse Sobiech hämmerte den Ball in den rechten oberen Winkel. Es war das 1.000. Zweitligator der Vereinsgeschichte. Oder, um präzise zu sein: das 1.000. St.-Pauli-Tor, seit die 2. Bundesliga eingleisig geführt wird.
Nach dem Ausgleich für die Geschichtsbücher ließ sich Cenk Şahin gerade mal fünf Minuten Zeit, um von der rechten Seite präzise auf den Scheitel unseres Topscorers Aziz Bouhaddouz zu flanken: 2:1 – Spiel gedreht, noch vor der Halbzeit.
Wie kommt es zu diesem Höhenflug? Will uns der Fußballgott das ganze Pech der letzten Monate zurückzahlen? Kann man doch an Gerechtigkeit im Leben oder, noch erstaunlicher, im Fußball glauben?
Dass wir drauf und dran sind, nicht nur die Abstiegsplätze hinter uns zu lassen, sondern auch das Mittelfeld anzugreifen, liegt daran, dass wir uns im Winter gut verstärkt und in der Causa Ewald Lienen die Nerven bewahrt haben. Fast alle Trainer hätten nach einer solchen Niederlagenserie, wie wir sie erlebt haben, den Rausschmiss als Quittung bekommen. Nicht jedoch Lienen, weil Fans und Verein gemerkt haben, wo die Probleme lagen. Der Trainer war nicht das Problem. Man sieht es jetzt. Lienen und sein Co-Trainer Janßen haben die Mannschaft wiederbelebt und stark gemacht.
Nicht übersehen dürfen wir, dass nach der guten Performance der Boys in Brown die letzte Viertelstunde in der Münchner Ferne zur Nervenvernichtungsmaschine wurde. Der kleine Knirps vor der Leinwand in der Sportfrikadelle musste noch einmal ran. Sein Stimmlein musste noch mal gen Süden brüllen, damit die Kiezkicker all die wirbligen Löwenangriffe überstehen konnten. Auf den Tag, an dem der FC St. Pauli eine Führung souverän zu Ende spielt, müssen wir noch warten.
Dennoch ist es erst einmal ein behagliches Gefühl, in der Rangliste einen Puffer nach unten zu wissen. Und Serien, das haben wir als frischgebackene Seriensieger nun gelernt, können lange dauern. Und sehr weit nach oben führen.
Dass wir mit der Leistung vom Samstag eine Siegesserie der Münchner gestoppt haben, erfüllt uns mit besonderer Genugtuung. Da hat ein Verein, der sich momentan schlecht benimmt, bekommen, was er verdient. Die 1860er erschwerten jüngst mehrmals Journalisten die Berichterstattung. Der aktuellste Vorfall ereignete sich am Samstag: Als die St. Pauli-Offiziellen auf der Tribüne die Treffer des FC bejubelten und sie dies in der Nähe des Löwen-Investors Hasan Ismaik taten, wurden sie gebeten, die Tribüne zu verlassen. Sie weigerten sich, dem Willen des selbstherrlichen Finanziers zu folgen.
Der Zwischenfall zeigt eine besorgniserregende Entwicklung: Ein Investor glaubt, sich autokratisch verhalten und Einfluss in alle Belange des Vereins wahrnehmen zu dürfen. St.-Pauli-Sportchef Andreas Rettig thematisiert diese Geisteshaltung in einem Interview auf der St.-Pauli-Website wie folgt: „Das Verhalten der Löwen-Verantwortlichen der letzten Wochen sollte auch dem letzten Fußballfan in Deutschland die Augen geöffnet haben und sollte all denen, die nach Investoren schreien, Mahnung und Warnung zugleich sein. (…) Wenn auf dem Altar des vielen Geldes Meinungsfreiheit und respektvoller Umgang mit Mitarbeitern, Medien und anderen Clubs auf der Strecke bleiben, dann gute Nacht Fußballdeutschland.“
Erst einmal ist zum Glück noch Tag, hier im Norden. Nur in München ist’s wieder ein bisschen Nacht geworden. Und dies als Folge jener Währung im Fußball, gegen die wir nichts einzuwenden haben (solange wir es sind, die sie horten): Tore.
Die HSV-Kolumne Sergejs Erben muss diese Woche leider ausfallen, da unser Autor Aimen Abdulaziz-Said verhindert ist.