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Bob Dylan

Stimme? Na ja. Gesang? Bestens

 

Bob Dylan live in Hamburg: kaum noch krächzende Rockmusik, dafür historische Jazzballaden und nostalgischer Mitternachtsblues. Grandios. Auch der Gesang.

Der Literaturbetrieb reagiert wie immer stoisch. Nobelpreis? Buchdruckmaschine an! Moment mal – was drucken wir eigentlich? Bei Thalia in der Hamburger Spitalerstraße stapelte sich im vergangenen Winter eine edel gebundene Neuauflage von Bob Dylans verschwurbeltem Prosaband Tarantel, verfasst 1965/66, Erstveröffentlichung 1971. Versehen mit dem Aufkleber „Nobelpreis 2016“. Verkäuferinnen verwiesen auf „das neue Bob-Dylan-Buch“. Rührend.

Bekanntlich ist die Stockholmer Preisvergabe kein Wunschprogramm, Philip Roth und Cormac McCarthy warten schließlich auch schon länger. Stattdessen als Interimslösung: Textdichtung im Rock. Wer käme noch in Betracht: Joni Mitchell oder Ray Davies? Paddy McAloon von Prefab Sprout oder Mark E. Smith von The Fall? Geht es um die Qualität und Innovation von Songtexten, hätte man freilich zuallererst an Chuck Berry denken müssen, als er noch lebte – genial komprimierter und gereimter Jive-Talk voller Witz und Anspielungen. Natürlich nicht so lang ausformuliert wie Desolation Row, dessen zehn wortreiche Strophen Dylan in der Bahrenfelder Barclaycard Arena am Flügel mühelos rezitiert (mächtige Americana-Bandversion!).
Müßig, Geschmackssache, und vielleicht besser nur ausnahmsweise Bob Dylan als Nobelpreisträger und sonst niemand. Beworben hatte er sich ohnehin nicht. Skurrilerweise kommt die Auszeichnung zu einer Zeit, in der er gar keine eigenen Texte mehr veröffentlicht, sondern stattdessen in Interviews die Tiefe und Unvergänglichkeit 80 Jahre alter Great-American-Songbook-Klassiker herausstreicht.

Großmeister Irving Berlin (†1989) wurde immerhin 101 Jahre alt, auch er wäre also seinerzeit Kandidat gewesen; eventuell wiegen für einen Musiker und Textdichter der Grammy fürs Lebenswerk (1968) und die Aufnahme in die Songwriters Hall of Fame (1970) ohnehin schwerer. Irving Berlins What’ll I Do sang Dylan im November 2015. Johnny Mercer (1909–1976), ein ebenbürtiger Versschmied der Goldenen Ära, verfasste die Zeilen zu That Old Black Magic und Autumn Leaves, beide Sinatra-Evergreens am Ende des aktuellen Sets.

Diese Hinwendung der letzten Jahre zu historischen Jazzballaden und nostalgischem Mitternachtsblues verdienter Autoren, deren coole, ironiefreie Umsetzung auch auf dem aktuellen Dreifachalbum Triplicate nicht nachlässt, ist der Ausweg aus dem nicht mehr altersgerechten Gypsy-Rock, den Bob Dylan beschreitet. Ermüdend die Diskussion, er wäre – im Allgemeinen ohnehin, mit den Jazzstandards im Speziellen – gesanglich überfordert. Abgesehen davon, dass er so gut intoniert wie seit Jahren nicht mehr, ist er allenfalls stimmlich überfordert, was eher reizvoll und metierbrechend ist; wie die Modulation verläuft, weiß er genau, das muss mitgedacht werden.

Wer dazu nicht in der Lage ist, sucht eben unter Protest das Weite wie seinerzeit die braven Mark-Knopfler-Fans, die 2011 das Doppelkonzert an selber Stelle nach wenigen Dylan-Stücken zu Hunderten verließen. Man muss sich nur das herrliche Sammelsurium des einst verpönten Doppelalbums Self Portrait (1970) in Erinnerung rufen, um zu begreifen, dass Dylan sogar im Belcanto zu Hause ist.

Die 100-minütige Show, diesmal ohne Pause, unterscheidet sich nicht wesentlich von 2015. Dunkel, schwer und glimmend, gleichzeitig frei und beschwingt, mit Donnie Herrons breitflächiger Pedal-Steel-Gitarre als Streicherersatz. Kein Like A Rolling Stone und wenig anderer Rock, dafür wieder viele Ballroom-Standards – dargebracht von, und das ist der Clou: einer Rockband.

Damit hat sich die Grundstimmung der seit 1988 rollenden Never Ending Tour entscheidend geändert: Vom harschen Bluesrock mit viel Geschreie und Gekrächze zum leise köchelnden, untertourigen Schnurren der ausgefuchsten Musiker inklusive Bob Dylans freigeistig-simplem Honky-Tonk-Piano.

Weit darübergemischt, in erstaunlicher Tonqualität, seine Stimme. Dylan wird Dylan, wenn er sie denn erhebt. Die altbekannte Mischung aus Shouten und Singen wird dann zum gleißenden Strahl, wie in Long And Wasted Years kurz vor Konzertende. Laut, eindringlich, unmissverständlich. Anklagend nicht mehr notwendigerweise gegenüber anderen, sondern sich selbst, den 75-Jährigen – wegen der einfachen Dinge: „I wear dark glasses to cover my eyes. There are secrets, that I can’t disguise. Come back, baby. If I hurt your feelings, I apologize.

Die fast rhythmuslose, stehende Version von Autumn Leaves lässt wie vor eineinhalb Jahren viele erschauern, pure Magie. Fantastisch gesungen, ja inbrünstig geschmettert. Weitere Highlights: tolle, inspirierte Versionen von Highway 61 Revisited und Tangled Up In Blue. Diese Inseln sind seit jeher der Grund seiner Fans, Konzerte zu besuchen und abzuwarten: Es wird schon etwas dabei sein. Natürlich ist es schwer nachvollziehbar, weshalb gleich sechs Nummern von Tempest (2012) im Programm sind. Warum nicht stattdessen interessante LP-Tracks wie The Man In Me oder Señor oder Every Grain Of Sand oder What Was It You Wanted? Er weiß doch, dass er die zahlreichen Kenner damit glücklich machen würde. Was soll man mit der bescheuerten Humptata-Version von Blowin‘ In The Wind anfangen?

Diese Fragen? Stellen sich nicht, und das wird auch hoffentlich noch lange so bleiben.