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„Chamburrrg!“, brüllt der Russe

 

Sie haben sich für Hamburg bislang nicht interessiert? Jetzt sollten Sie, denn nun gibt es die Kolumne “Hamburger Tatsachen”.

Der Mann, der als Letzter in das Zugabteil steigt, trägt Kurzhaarschnitt, seine Nase ist gebrochen, sein Gesicht von einer Narbe gezeichnet und seine Augen schimmern dunkel.

„Chamburg?“, fragt er.

„Ja, Hamburg“, antwortet ein junger Mann, der gleich neben der Abteiltür sitzt und einen Laptop auf seinem Schoß öffnet, um zu arbeiten. Die Hornbrille gibt ihm ein ultramodernes Aussehen.

„Chamburg! Gut, Karascho!“, sagt der Russe und macht einen Schritt nach vorne. Es ist, als schöbe sich ein riesiger, zerbeulter Schrank ins Zugabteil. Die Reisenden starren auf das, was sie gerade vor sich haben. Auf den Laptop, auf eine Zeitung, auf ein Buch und auf die verregnete, graue Landschaft, die vor dem Fenster vorbeirauscht. Und ihnen rieselt ein kalter Schauer über den Rücken.

Der Russe setzt sich, lächelt eine wölfisches Lächeln, greift in die Innentasche seiner Lederjacke, zieht einen Reisepass heraus, öffnet ihn und hält ihn dem Hornbrillenträger vor die Hornbrille.

„Lettland!“, sagt der Russe.

Der junge Mann lächelt, der Laptop auf seinem Schoss surrt.

„Ponimajesch Russki?“, brummt der Russe.

„Englisch!“

„No, English sorry!“, dann denkt er lange nach, sagt schließlich: „I … I…“, dann schlägt er sich mit seiner Faust auf die mächtige Brust. „I Latvia! I Lettland!“.

Er lächelt wieder und entblößt dabei messerscharfe Haifischzähne. Die Nachricht, dass es die Mitreisenden mit einem Letten zu tun haben, ist als Beruhigung gedacht, denn Russen haben keinen guten Ruf, seit sich ihr Präsident mittels Gewalt die Krim geschnappt hat. So viel weiß offenbar auch der ungeschlachte Riese. Die Mitreisenden aber wirken gar nicht erleichtert, als der Russe seinen lettischen Pass wieder einsteckt. Sie sind nicht bereit, ihm lautere Absichten zu unterstellen. Vielleicht ist ihnen auch die Tatsache bekannt, dass 25 Prozent der lettischen Bevölkerung ethnische Russen sind. Und Wladimir Putin hat nach der Einnahme der Krim verkündet, er werde überall dort eingreifen, wo Russen außerhalb der Grenzen ihres Mutterlandes lebten und sich bedrängt fühlten.

Der Riese im Abteil sieht nicht aus, als sei er bedrängt, und wie ein schutzbedürftiger Bürger des Zwergstaats Lettland wirkt er auch nicht. Er sieht aus wie ein Russe, er spricht wie eine Russe, er verbreitet Angst, wie es Russen in dieser bewegten Zeit tun.

Der Russe, der vergeblich vorgibt eine Lette zu sein, verfügt immerhin über so viel Feingefühl, dass er das eisige Misstrauen seiner Mitreisenden bemerkt und  versucht es mit Komplimenten .

„Chamburrrg! Beautifulll!“, rollt es aus ihm. Sein Lippen öffnen sich, und die furchteinflößende Zahnreihe blinkt auf. Es hilft nichts. Schweigend wird ihm weiter die Bereitschaft zu Schandtaten unterstellt.

Wolf, Bär, Haifisch, Schläger, alle möglichen Bezeichnungen für den Russen sieht man schon auf der Stirn der Reisenden aufleuchten wie Flammenzeichen, da kündigt die Schaffnerin via Mikrofon an, dass man in wenigen Minuten Hamburg Hauptbahnhof erreichen werde.

„Chaaamburrg!!“, brüllt der Russe aus Lettland, „Chaaamburrg!!!“

Der Zug ruckelt und zuckelt. Der Russe erhebt sich, es wird dunkel im Abteil. Neben ihm steht eine junge, kleine, zarte, blonde Frau auf, der es bisher gelungen war,  sich durch beständiges Abwenden seiner Aufmerksamkeit zu entziehen. Sie reckt sich nach einer schweren Tasche auf der Gepäckablage. Als sie sie zu fassen bekommt, bremst der Zug plötzlich ab, die Tasche fällt herunter, und da geht der Russe mit den mächtigen Pranken dazwischen, mit der Rechten wehrt er die Tasche ab und mit der Linken umfasst er die junge Frau. Dabei lächelt er ein Lächeln, dass die Frau nicht anders kann, als ihm ein ebenso aufrichtiges wie überraschtes „Danke! Danke!“ in sein zerknautschtes Ohr zu flüstern. Dann löst sie sich schnell und eilt davon, gefolgt von den Mitreisenden.

Der Russe aus Lettland geht als Letzter hinaus. Er tritt auf den Bahnsteig und ist nun bereit Chamburg mit seiner Anwesenheit zu bereichern.