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Bürgerschaftswahl in Hamburg

Das Orakel

 

Die AfD im Parlament, die FDP im Aufwind? Die neuesten Umfragen sagen wenig über die Bürgerschaftswahl aus – umso kühner werden sie gedeutet.

Angeblich hat ein politisches Erdbeben Hamburg erschüttert. Angeblich steht die AfD „vor dem Sprung in die Bürgerschaft“, so berichtet das Hamburger Abendblatt. Und angeblich haben bei der FDP „gleich zwei Meinungsforschungsinstitute einen Sprung auf nun vier Prozent ausgemacht“, was deren Spitzenkandidatin Katja Suding zu einer kühnen Ansage inspirierte: „Wir machen uns im Laufschritt auf in Richtung fünf, sechs, sieben, acht Prozent.“

„Fakt ist“, sekundiert der Chefredakteur der größten Hamburger Tageszeitung, „dass die FDP völlig überraschend wieder ein ernsthafter Kandidat für einen erneuten Einzug ins Hamburger Parlament ist. Mehr noch: Wenn sie den Sprung über die fünf Prozent schaffen würde, könnte Katja Suding möglicherweise in wenigen Wochen mit Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) über eine Koalition sprechen.“

Das Ärgerliche an solchen Nachrichten ist, dass sie womöglich stimmen – aber nicht weil Meinungsforscher etwas Derartiges ermittelt hätten, sondern weil Journalisten durch tendenziöse Berichterstattung die Trends erzeugen, die sie zu beobachten vorgeben.

In Wirklichkeit bedeutet die minimale Verschiebung der Umfragewerte, die angeblich das politische Bild der Stadt neu zeichnet, schlicht: gar nichts. Für den Ausgang der Bürgerschaftswahl in drei Wochen ist es völlig unerheblich, ob sich von 1.000 Teilnehmern einer repräsentativen Telefonumfrage 40 oder 50 zur AfD bekennen und ob 20 oder 40 der Befragten FDP wählen wollen. Der Unterschied ist in beiden Fällen zu klein, um statistisch signifikant zu sein. Er ist womöglich nur ein Zufallsprodukt. Mal geht ein Christdemokrat nicht ans Telefon, wenn Infratest dimap anruft, mal kommt ein AfD-Anhänger früher von der Arbeit und nimmt einen Anruf an, den er anderenfalls verpasst hätte – schon ist die Trendwende da.

Dass Politiker Umfragen in ihrem Sinne interpretieren, ist ihnen kaum vorzuwerfen. Behauptungen wie die von Katja Suding über die Wahlchancen ihrer Partei fallen nicht aus dem Rahmen der im Wahlkampf üblichen Halbwahrheiten.

Schwer erträglich aber ist falsche, manipulative Berichterstattung über Umfragen. Selten war die Interpretation von Wahldemoskopie so sehr ein politisches Geschäft wie vor dieser Bürgerschaftswahl. Gleich zwei Parteien, AfD und FDP, stehen auf der Kippe – und ihr Ergebnis entscheidet mit darüber, wer am Ende Hamburg regiert. Für etliche ihrer Wähler ist daher die Frage wichtig, womöglich entscheidend, ob sie mit ihrer Stimme tatsächlich eigene Vertreter in die Bürgerschaft wählen oder ob es beim demonstrativen Bekenntnis für eine außerparlamentarische Opposition bleibt.

Die Anhänger von FDP und AfD stehen vor einem strategischen Dilemma: Scheitern ihre Parteien, wird das in der öffentlichen Debatte als schwerer Rückschlag wahrgenommen werden. Schaffen sie es aber in die Bürgerschaft, wächst die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die SPD sich einen Koalitionspartner suchen muss. Das könnte theoretisch auch die FDP werden, plausibler aber wäre Rot-Grün. Jedenfalls werden die Grünen, in der Frage hat Olaf Scholz sich festgelegt, der erste Ansprechpartner der Sozialdemokraten sein, wenn es zur absoluten Mehrheit nicht reicht. Unter den Anhängern von FDP und AfD werden nicht viele sein, denen diese Aussicht gefällt.

Natürlich gibt es Wähler, die solche Überlegungen nicht anstellen, sondern einfach die Partei wählen, die ihnen am besten gefällt. Wer aber strategisch wählt, ist auf Information angewiesen. Umso schlimmer, wenn das wenige, was sich über wahrscheinliche und weniger wahrscheinliche Wahlausgänge sagen lässt, in der öffentlichen Debatte verzerrt wird.

In Wirklichkeit bleibt nach dem jüngsten Orakel der Demoskopen alles, wie es vorher war. Vielleicht kommen die AfD oder die FDP oder beide in die Bürgerschaft. Vielleicht auch nicht. Vielleicht verliert die SPD ihre absolute Mehrheit. Vielleicht auch nicht. Wer behauptet, mehr zu wissen, der weiß wahrscheinlich weniger.