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Hamburger Tatsachen

Das Schicksal einer Hamburger Ratte, Teil 2

 

Die Geschichte der in der Hafencity zu Tode gekommenen Ratte ist bisher nur vom Fensterputzer erzählt worden, also gewissermaßen von ihrer Außenseite. Es gibt aber auch eine Innenseite dieser Geschichte. Sie wird von der Käuferin jener prächtigen Wohnung mit Blick auf den Hafen erzählt, an deren Fenster die Ratte ihr trauriges Ende fand.

Die Frau, Anfang fünfzig, zwanzig Jahre glücklich verheiratet, kinderlos, zehn Jahre glücklich geschieden, brüht sich an jenem windigen Tag einen heißen Kaffee. Sie hat noch ein bisschen Zeit bevor sie die Wohnung verlassen muss, um zur Arbeit zu gehen. Der Kaffee ist fertig. Die Frau trinkt ihn schwarz, ohne Zucker. Sie geht ins Wohnzimmer, setzt sich auf ihr hellgrünes Sofa, das hinter der Fensterfront platziert ist. Panoramablick.

Ein riesiges Passagierschiff läuft in den Hafen ein, aus dem Schornstein steigt Rauch in den Himmel, an Deck sind zahllose Menschen und winken den Hamburgern zu.  Die Frau hinter ihrem Fenster winkt zurück. Möwen fliegen vorbei. Ihr Geschrei ist in der Wohnung nicht zu hören, denn die Fenster sind absolut luft- und lärmdicht. Selbst das dumpf rollende Brummen der gewaltigen Schiffsmotoren kann sie nicht durchdringen.

„Was für eine Aussicht!“, denkt sie, schlürft den Kaffee und winkt mit der linken Hand lässig den Passagieren. Sie hat ein bisschen Mitleid mit diesen Leuten. Vierzehn Tage auf dem Wasser, dann müssen sie wieder zurück in ihre tristen Heimatorte, wo es kein Wasser, keine Schiffe, keine Möwen gibt.

Sie hingegen!

Sie hat das jeden Tag.

Teuer war die Wohnung. Selbst sie, die gut verdient, musste sparen und dann noch die Bank überzeugen, ihr einen umfangreichen Kredit zu geben.

„Die Bank“,  denkt sie, „die Bank versteht nichts. Die hat immer Angst. Die weiß  nicht, dass Luxus sich lohnt. Immer, unter allen Umständen!“

Der Kaffee ist ausgetrunken. Die Passagiere auf dem Luxusliner winken immer noch, der Schornstein raucht. Möwen segeln an der Fensterfront vorbei. Es ist still.

Da fliegt plötzlich ein dunkler Schatten auf die Frau zu. Schon glaubt sie, von ihm erfasst zu werden und will sich ducken, da klatscht die heranfliegende Ratte gegen die Fensterscheibe. Die Frau schaut mit von Entsetzen geweiteten Augen auf die dunkle, blutende Masse, die am Fenster klebt als wärs ein riesiger schwarzroter Kaugummi.

Die Passagiere auf dem Luxusliner winken immer noch. Die Frau winkt nicht mehr. Sie sieht die Möwen und glaubt ihren Schrei deutlich zu vernehmen, ein spitzes Krächzen, das in den Ohren schmerzt, sie schaut auf das Schiffsdeck und sie hört das wilde Brausen des Schiffshorns, sie sieht den Rauch, der aus dem Schornstein kommt und riecht den schweren Dieselgestank.

Als der Fensterputzer etwas später kommt, um die unselige Ratte, die den Panoramablick verstellt,  zu entfernen, ist es bereits zu spät.

Ihr Traum vom Hafen ist zerplatzt.