Zuerst war es eine Ratte, dann kam Django hinzu: Ulrich Ladurner betrachtet Hamburg aus ungewöhnlichen Perspektiven, mal erfindet er was, mal nicht, aber immer lässt er sich von grob unterschätzter Wirklichkeit inspirieren. Seine neuen Hamburger Geschichten spielen immer dort, wo Dinge ein Ende finden. In den ersten Folgen ging es um Bismarck, den dicken Herrn Maibaum und Francos Traum, heute geht es um Frau Kruse.
Während des Spaziergangs, den Gerda Kruse jeden morgen mit ihrem Rollator entlang der Großen Bergstraße unternahm, kam sie an einer großen Fensterfront vorbei, die vollständig mit orangefarbenen Gardinen verhängt war.
Wie lange waren diese Vorhänge schon zugezogen? Ein Jahr, zwei, drei oder schon zehn Jahre?
Frau Kruse konnte sich daran nicht erinnern. Sie konnte sich an vieles nicht mehr erinnern, was in ihrem Alter von 93 Jahren nicht erstaunlich war. Gut, es gab andere, die 2015 wussten, mit wem sie 1956 an einem Mittwoch im August zu Mittag gegessen hatten und wie die Speisefolge gewesen war. Frau Kruse verfügte nicht über so ein erstaunliches Erinnerungsvermögen.
Das Leben war an ihr ja auch ereignislos vorbeigeflossen wie die Elbe, ruhig, kühl, grau, selten gefährlich und noch seltener aufregend. Der Vergleich mit der Elbe war ihr selbst eingefallen und er gefiel ihr, schließlich war sie Hamburgerin. Und zu jeder Hamburgerin gehört die Elbe, das war ihre Überzeugung. Freilich, zu jedem Hamburger gehörte sie auch.
„Du bist so unergründlich und kraftvoll wie die Elbe!“ hatte sie zu ihrem Mann Jens Kruse an guten Tagen gesagt, und es gab viele gute Tage mit Jens, der leider schon verstorben ist. „Du redest wie eine Schlagersängerin!“, hatte er ihr brummelnd geantwortet, wobei er sie im Ungewissen darüber ließ, ob ihm der Vergleich mit der Elbe denn gefiel oder nicht. Jens war eben unergründlich – und er war sehr schweigsam.
Aber das war alles schon sehr lange her. Wie lange bloß?
Ach, Frau Kruse kam wieder ins Grübeln. Sie blickte auf die Fensterfront. Dann hielt sie inne, setzte sich auf den Rollator und betrachtete den orangefarbenen Vorhang. Im Lauf der Jahre war zwischen ihr und dem Vorhang eine Art Beziehung entstanden. Sie fragte ihn: „Was verbirgst du?“ Und er schwieg. Das ermunterte sie nur zu einer weiteren Frage: „Ist etwas Gutes oder etwas Schlechtes?“
Die Tatsache, dass der Vorhang beharrlich schwieg, nahm Frau Kruse also als Aufforderung, weitere Fragen zu stellen. Sie zielten meist darauf, herauszufinden, was sich wohl hinter diesem Stoff verbergen mochte.
Auf diese Weise entstand ein Gespräch zwischen Frau Kruse und dem Vorhang. Außenstehende würden sagen, dass das eine hanebüchene Behauptung ist, denn was sollte ein Vorhang schon zu sagen haben, ein Fetzen Stoff! Doch Außenstehende haben eben keine Ahnung, weil sie draußen stehen, weit weg von Gerda Kruse und ihrer Welt, in der auch Vorhänge ihren würdigen Platz finden konnten.
„Ich weiß es!“, sagt Frau Kruse an diesem Morgen plötzlich.
„Ich weiß jetzt, was du verbirgst!“ Sie machte eine Pause, weil sie sehen wollte, ob der Vorhang sich ertappt fühlte. Tatsächlich war ihr, als bewege er sich. Es ging ein erkennbares Zittern durch den Stoff.
„Ja, habe ich recht?!“
Der Vorhang kam in leichte Schwingungen.
„Es ist die Elbe! Du verbirgst die Elbe! Nein, nein: Du bist die Elbe!“, rief Gerda Kruse.
Und tatsächlich, der Stoff kräuselte und wellte sich.
Frau Kruse fasste sich ans Herz.
Die Elbe floss an dieser Fensterfront vorbei! Doch sie war nicht grau und undurchdringlich. Sie war hell und durchsichtig bis auf den Grund. Frau Kruse konnte in der Tiefe die Fische schwimmen sehen, Flundern und Zährten, Meerforellen und Welse, Karpfen und Barben. Es war ihr, als hatte sie ein Bilderbuch aufgeschlagen.
Dann schwamm Jens vorbei, das Gesicht kreidebleich, die Augen geschlossen, ein Lächeln auf den Lippen, mit stocksteifen Gliedern trieb er vorbei, und da erinnerte sich Frau Kruse, dass er gesagt hatte: „Ich gehe in die Elbe!“ und dass dies das letzte gewesen war, was sie von ihrem Mann gehört hatte.