Ein Linken-Abgeordneter hat ein gestörtes Verhältnis zur Wahrheit. Ärgerlich, dass seine Partei ihn trotzdem in den Bundestag schicken will.
Die Zeiten sind angespannt, wenige Worte reichen oft, um die Lage eskalieren zu lassen. Im Großen hat das der türkische Außenminister kürzlich bewiesen, als er im Konsulat an der Alster über angebliche Demokratiedefizite Deutschlands herzog und seine Zuhörer damit innerhalb kürzester Zeit aufwiegelte. Und Martin Dolzer, Bürgerschaftsabgeordneter der Linken, demonstrierte die verheerende Wirkung falscher Worte kürzlich im Kleinen.
In St. Georg hatte ein Zivilpolizist auf einen Ghanaer geschossen, der ihn zuvor offenbar mit einem Messer attackiert hatte. Eine undurchsichtige Situation, widersprüchliche Zeugenaussagen. Aber schon wenige Tage nach dem Vorfall ließ sich Dolzer dazu hinreißen, in der taz von einem »rassistisch motivierten Hinrichtungsversuch« zu sprechen. Beweise für den krassen Vorwurf blieb er schuldig, einen Effekt hatte seine Äußerung dennoch: Die Debatte überschlug sich fast vor Hysterie, und in St. Georg kam es zu Tumulten. In einer ohnehin brisanten Situation hat Dolzer mit einer einzigen Äußerung gleich mehrere Eskalationsstufen auf einmal genommen.
Nun hat die Linke eben diesen Mann zum Direktkandidaten für die Bundestagswahl im Bezirk Mitte nominiert. Eine Entscheidung, die irritiert, hat Dolzer doch bewiesen, dass es ihm an Professionalität schon für ein Bürgerschaftsamt mangelt. Die Nominierung ist aber mehr als eine Irritation, sie ist ärgerlich. Dolzer hat mit seinem Handeln gezeigt, dass er es mit der Wahrheit im Zweifel nicht so genau nimmt. Gerade wer wie der 50-Jährige hin und wieder als Journalist arbeitet, sollte wissen, dass es nicht reicht, nur einseitig mit ein paar Leuten zu sprechen, um eine derart steile These wie jene vom »rassistisch motivierten Hinrichtungsversuch« zu formulieren. Und er sollte wissen, dass Worte Schaden anrichten können, dass sie Gräben zwischen Gruppen vertiefen können.
Anstatt die Verantwortung für seinen Fehler zu übernehmen, schob der Abgeordnete die Schuld lieber einer Redakteurin der taz zu, die den Text mit seinem Zitat verfasst hatte. Die Journalistin habe ihn falsch zitiert, behauptete Dolzer, das sei ihm in der Hektik leider durchgerutscht, als er seine Zitate freigegeben habe.
Nicht der Politiker ist schuld, sondern die Medien: ein beliebtes Muster dieser Tage. Von einem Mann, der sich gern moralisch über Leute wie Donald Trump erhebt, hätte man etwas anderes erwarten können.
Enttäuschend ist die Erkenntnis, dass man mit solcher Kaltschnäuzigkeit durchkommt. Nach Dolzers Kür zum Bundestagskandidaten zitierte die Welt einen Parteifreund des Linken-Politikers: »Warum sollten wir einen Kandidaten nicht aufstellen, nur weil er von den Medien falsch wiedergegeben wurde?«
Die Wahrheit ist derzeit ein bedrohtes Gut. Sie im Kleinen auszulegen, wie es einem gerade gefällt, kann Schaden anrichten, auch im Großen.