Wenn Kita-Mitarbeiter streiken, was machen dann die Eltern? Sie kümmern sich um die Kinder – im Schichtdienst.
Im Gruppenraum sieht es aus wie auf einem Schlachtfeld. Zwei Frauen klauben Kartoffelreste vom Boden und Putenbrust vom Stuhl. Ein Mädchen in Strumpfhosen und Unterhemd wandert ziellos durch den Raum. Hinter ihm wedelt eine Frau mit einer Hose. In einer Ecke liegt ein Junge auf dem Teppich, alle viere von sich gestreckt, Augen geschlossen, Mund geöffnet, und schnarcht leise. Eine Frau fischt einen Jungen vom Boden, schnuppert an seinem Hintern. Verzieht das Gesicht. »Oh nein, noch ein Kaka-Po!«
In der Kita Rotenhäuser Damm in Wilhelmsburg herrscht Chaos. Fünf Erwachsene hetzen sechs Kindern hinterher. Ein guter Betreuungsschlüssel, würde man meinen.
Doch die Erwachsenen sind keine Erzieher. Es sind Mütter und Väter, die sich bereit erklärt haben, einen Notdienst einzurichten, solange die Erzieher streiken.
Zur Vorbereitung haben sie Zettel aufgehängt, herumtelefoniert, einen Plan aufgestellt und die freiwilligen Eltern in zwei Schichten von je viereinhalb Stunden aufgeteilt. In den Räumen der Elbkinder-Tagesstätte betreuen sie sechs Kinder, zwischen acht Monaten und drei Jahren alt. An normalen Tagen kümmern sich hier zwei Erzieherinnen um 14 Kinder. Trotzdem kommen die Mütter und Väter kaum hinterher.
Wie geht das: Erzieher sein? Das fragen sich die Eltern, während sie auf dem Boden knien, weinende Kinder trösten, Hosen wechseln, Schniefnasen und Broccolikrümel abwischen. »Wir schaffen es ja gerade so, die Kinder zu versorgen«, sagt eine Mutter, die sich jetzt erst mal selbst mit Kartoffeln, Kaisergemüse und Putenbrust versorgt. »Wie kriegen die Erzieher da noch ihr pädagogisches Programm hin?«
Im Badezimmer wickelt eine Mutter im Akkord. Sie selbst macht gerade Elternzeit, hat das eigene Neugeborene um den Bauch geschnallt. Die anderen Eltern sind alle Selbstständige: Pilates-Trainer, Heilpraktiker, Illustratoren. Ihre Arbeit haben sie in den Nachmittag verschoben oder sich gleich komplett freigenommen.
Die meisten finden es richtig, dass die Erzieher für ein höheres Gehalt streiken. Sie finden aber auch, dass das mit der Kinderbetreuung in der Streikzeit ein Problem ist.
Ein »echtes Problem«.
Einige Eltern hätten schon überlegt, ihre Kinder im Småland, der Kinderbetreuung von Ikea, zu parken, erzählt eine Mutter. Den Notdienst-Einsatz in der Kita haben sich die meisten entspannter vorgestellt. Vielleicht in etwa so wie das Bällebad beim schwedischen Möbel-Discounter.
Die kleine Wanda will die Beine ihres Vaters nicht loslassen und wird eifersüchtig, wenn er mit anderen Kindern spielt. Paula, die sonst so brav in der Kita ist, weigert sich auf einmal, ihr Gemüse zu essen und will erst recht nicht schlafen. Emma und Jan quengeln den ganzen Vormittag. »Die spüren, dass wir keine Ahnung haben von ihrem Tagesablauf«, sagt Wandas Mutter, »die tanzen uns auf der Nase rum.«
Seit 8. Mai streiken die Erzieher schon. Bis Pfingsten werde es wohl dauern, heißt es bei ver.di. Vielleicht auch länger.
Zwischen den wuselnden Eltern lächelt nur eine Frau entspannt. Birgit Steffens leitet die Wilhelmsburger Kita und freut sich: »Jetzt merken die Eltern endlich mal, dass es nicht nur darum geht, die Kinder satt und sauber zu halten.«
Erzieher müssten sich in der Zeit noch überlegen, was sie den Kindern beibringen, was sie singen, malen, spielen. Dann noch die Elterngespräche und die Dokumentation. Immerhin das können sich die Eltern sparen.
»Lassen Sie das ruhig mit dem Desinfizieren«, sagt ein Vater, als Steffens den Wickeltisch einsprüht, bevor sie das nächste Kind darauflegt. »Darf ich nicht«, antwortet Steffens. Hygiene ist Vorschrift. Viele Eltern hätten ja keine Ahnung von den ganzen Regeln, die die Erzieher einhalten müssten.
Gegen Mittag kehrt Ruhe ein, ein Großteil der Kinder schläft. Die Eltern sinken erschöpft auf die Stühle, stürzen sich auf die Essensreste. Die Kantinenmitarbeiterin, die eine Kanne Kaffee bringt, empfangen sie wie eine Heilsbringerin.
Um 12 Uhr dann endlich: Schichtwechsel. »Ich freu mich aufs Wochenende«, sagt eine Mutter, als sie ihre Jacke anzieht. »Endlich wieder nur ein Kind.«