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Hamburger Schuldebatte

Was hippe Eltern tun, wenn ihre Kinder in die Schule kommen

 

Frühling auf St. Pauli, das heißt: Man kann Hipster wieder von Obdachlosen unterscheiden* und Eltern beginnen, ihre Schulkinder aus der Wohnung zu schmeißen – zumindest auf dem Papier. Viele Eltern in meinem Bekanntenkreis melden ihre Kinder jetzt in den Wohnungen von Freunden an, die in der Nähe von beliebten Schulen wohnen. So können sie sichergehen, dass ihre Kinder auch dort eingeschult werden. Denn meine Bekannten halten sich zwar für tolerant und aufgeklärt und Integration finden sie natürlich auch wichtig. Aber ihre Toleranz hat Grenzen – bei ihrem eigenen Kind.

Selbstverständlich sind wir alle für das G9-Abitur mit genug Zeit zum Lernen, im Gegensatz zu den Elterninitiativen aus den Elbvororten leugnet auf St. Pauli nur niemand, dass es das an den Stadtteilschulen längst gibt. Bei der Initiative G9 – jetzt! scheint man das entweder nicht zu wissen, oder man ignoriert es einfach, jedenfalls findet man nichts dazu bei ihren Argumenten. Andererseits ist das schon wieder konsequent, denn das G9 an der Stadtteilschule erfüllt alle offen gestellten Forderungen – aber eben die eine, große, immanente, stillschweigend eingebaute Forderung nicht.

Auf der Schulbank mit dem Prekariat

Ich glaube, wir sollten alle ehrlich diskutieren, was der echte Unterschied zwischen dem G9 am Gymnasium und dem G9 an der Stadtteilschule ist: Ersteres klingt schicker, und bei Letzterem sitzen die eigenen Kinder potenziell mit denen des Prekariats zusammen. Ich glaube, darum geht es eigentlich. Und ich finde, man sollte so ehrlich sein, das auch zu sagen. Denn das sind Sorgen, die sich alle Eltern machen: Welcher Umgang schadet meinem Kind?

Ich bin ein Freund des alten G9. Zumindest habe ich es für absurd gehalten, die Schulzeit zu verkürzen, ohne ein Konzept dafür zu haben. Einfach dieselbe Menge Stunden auf eine kürzere Zeit zu verteilen, ist ja kein Konzept, sondern im besten Fall eine Textaufgabe mit Dreisatz. Das spricht tatsächlich gegen das Gymnasium. An einer Stadtteilschule hätte mein Kind außerdem nicht nur mehr Zeit, es säße auch in einer Klasse mit weniger Schülern (23 gegenüber 28) an einer Schule mit verhältnismäßig mehr Lehrern (8 gegenüber 6,6 pro 100 Schüler).

Aber gleichzeitig säßen daneben eben auch die Kinder, die sonst auf der Haupt- oder Realschule gelandet wären. Das ist der Unterschied. Und ob uns das passt oder nicht, ob es unangenehm ist oder nicht: Wenn es die Eltern bewegt, dann muss man sich dem stellen. So ernst möchte ich genommen werden, von der Politik, aber auch von Elterninitiativen.

Für meine Kritik liefere ich jetzt noch ein paar Zahlen nach: Dem aktuellen Run auf die Gymnasien schadet es nämlich ganz offensichtlich nicht, dass das Abitur in acht Jahren den Kindern (zumindest nach Ansicht von uns Eltern) extremen Stress aufbürdet: Obwohl sich eine deutliche Mehrheit in einer Umfrage des Hamburger Abendblatt gegen G8 ausgesprochen hat, steigen die Zahlen der Anmeldungen, anstatt zu sinken. Die Angst vor dem Stress für die Kinder scheint immer noch kleiner zu sein als die Angst davor, dass das eigene Kind auf eine Schule geht, auf die jeder gehen kann.

Das wirklich Unangenehme an dieser Situation ist, dass sie für jeden Einzelnen unlösbar ist, während wir aber alle einzeln und allein sind. Denn als Eltern haben wir letztlich immer nur unsere eigenen Kinder im Blick, und so gehört sich das meiner Meinung nach auch. Ich bin sehr für die Lösung gesellschaftlicher Probleme, für Integration und Toleranz und alles mögliche andere, aber da, wo ich wohne, ist das ein Bekenntnis, das tatsächlich Folgen hat.

Zum Frühstück ein Knoppers

Die Frontlinie der Integration verläuft unter anderem durch die Schulen der schönen bunten Hipster-Stadtteile. Schön bunt kann aber auch heißen, dass man den Typen, der sonst immer mit der Dose Bier vorm Kiosk steht, plötzlich auf dem Elternabend trifft. Es kann heißen, dass es an der Schule Kinder gibt, deren Eltern praktisch keinen korrekten deutschen Satz sprechen können – und das nicht, weil sie keine Deutschen wären. Auf die Aufforderung der Lehrer beim allerersten Elternabend meiner Tochter, dass die Kinder doch bitte jeden Tag ein gesundes Frühstück mit in die Schule bringen sollen, fragte eine Mutter tatsächlich: „Also ’n Knoppers, oder was?“

Einerseits glaube ich selbstverständlich nicht, dass unsere Stadt ein besserer Ort wird, wenn die Kinder solcher Eltern unter sich bleiben und in der Schule ausschließlich unter gleichen sind, weil alle anderen wegziehen oder ihre Kinder auf eine Privatschule schicken. Auf der anderen Seite sind aber nur meine Kinder meine Kinder, und ich verspüre ganz wenig Lust, auf ihre Kosten die Gesellschaft zu verbessern – obwohl man natürlich gerade wegen seiner Kinder die Welt verbessern muss. Es ist ein schmaler Grat. Ich kenne die perfekte Balance nicht, den geraden Weg da hindurch, aber ich weiß, dass er sehr viel damit zu tun hat, dass man sich die Dinge jeden Tag wieder sehr genau anguckt. Und zwar ehrlich anguckt.

Eltern sollen sagen, was sie stört. Wenn die Hamburger Eltern das G9 am Gymnasium so sehr wollen, wie ich es glaube und wahrnehme, dann muss es kommen, und dann wird es auch kommen. Aber in der Diskussion einfach so zu tun, als gäbe es die Stadtteilschulen mit ihrem G9 nicht, bedeutet, höchstens die halbe Wahrheit zu erzählen. Und die hilft nie irgendwem.

Mein Vorschlag zur Güte wäre eigentlich, das G8 so zu überarbeiten, dass man mit weniger Stunden auskommt – und gleichzeitig eine Menge Energie und Gehirnschmalz investiert, um die Stadtteilschulen besser zu machen. Aber erstmal geh ich mit meinen Mädchen Eis essen.  Es ist schließlich Frühling.

*Obdachlose haben keine Rennräder.