Horizontal schwebend, millimetergenau passend: Der japanische Mittelfeldspieler Ryō Miyaichi hat am 34. Spieltag gezeigt, was für den FC St. Pauli alles möglich gewesen wäre.
„Hätten wir diesen Japaner von Anfang an gehabt“, sagte ich zu Georg nach dem Schlusspfiff, „dann wäre alles drin gewesen. Auch der Aufstieg.“ Und Georg schaute mich an und dachte nach. Aber statt eine Antwort zu geben, fragte er: „Was würde wohl Carlos, die Meckerecke, dazu sagen?“
Eine schwierige Frage. Nach so einem Spektakel gibt es – sofern man nicht Carlos heißt – nichts zu meckern! Fünf Tore von unserer Mannschaft hatten wir am letzten Spieltag der 42. Zweitliga-Saison gesehen – und vor allem diesen Wahnsinnsauftritt von Ryō Miyaichi. Miyaichi war im vergangenen Sommer zu uns gekommen. Gleich nach Arbeitsbeginn hatte er sich allerdings verletzt und stand erst vor wenigen Wochen erstmals auf dem Rasen. Am Pfingstsonntag nun gab er seine Premiere in der Startformation. Und von Anpfiff an brannte er ein Feuerwerk ab, wie wir es am Millerntor beileibe nicht häufig zu sehen bekommen. Letztmals wohl 1991, als Dirk Zander den schnellsten Doppelpack der Liga schoss (gegen Oliver Kahn!).
„Carlos würde ein Haar in der Suppe finden“, sagte Georg. Man merkte ihm an, wie sehr er sich bemühte, eine gute Vertretung abzugeben. Carlos, der normalerweise neben mir auf der Gegengeraden steht, ist nämlich im Urlaub. „Er ist in letzter Zeit häufig im Urlaub“, sagte ich zu Georg. Und Georg nickte zufrieden. Denn Urlaube von Carlos sind gut für Georg. Dann kann er Carlos vertreten. Er tut dies so vehement, dass er stets versucht, eine gute Meckerecke abzugeben – vor allem dann, wenn am Millerntor nach zwei geglückten Zuspielen hintereinander wie gewohnt Euphorie ausbricht und sofort die Orakel über einen baldigen Aufstieg sprießen.
Ryō Miyaichi erzielte zwei wunderschöne Tore selbst – einmal horizontal in der Luft schwebend, einmal stramm abziehend von halbrechts. Und als Vorbereiter flankte er Lennart Thy den Ball so millimetergenau auf den Schädel, dass der nicht umhin kam, sich in seinem letzten Spiel für den FC in die Torschützenliste einzutragen. Genauso überragend der nächste „Abtrünnige“, Sebastian Maier. Der Bald-Hannoveraner würgte zum Abschied ein Tor selber in die Maschen und bereitete drei Kisten vor. Christopher Buchtmann, der die ganze Saison über kein einziges Mal getroffen hatte, nutzte die letzte Möglichkeit, seinen persönlichen Missstand zu beheben. Kyoung-Rok Choi wiederum, Leistungsträger in spe, würzte dieses fulminante Saisonfinale, um zu zeigen, mit wie viel technischer Begabung er gesegnet ist. Außerdem sahen wir den wieder einmal genesenen, bissigen, zeitweise brasilianisch auftanzenden Jan-Philipp Kalla, der nach seiner Rückkehr ins Kader vom Publikum zu Recht als „Fußballgott“ begrüßt wurde.
Die Stimmung nach dem Abpfiff: festlich wie nie in dieser Saison. Schließlich hatte unsere Mannschaft ein Jahr lang auswärts aufgetrumpft – sich aber umgekehrt zu selten an die in Stein gemeißelte Devise „Niemand siegt am Millerntor“ gehalten. Die Folge: Platz vier.
Das Saisonfinale am Pfingstsonntag war somit geschaffen für totale Aussöhnung, fröhliche Harmonie und explodierenden Optimismus. Dazu dampften Cannabisschwaden in den Himmel. Ein Gegengeradler zündete etwas übermütig (und unmaskiert!) seinen Pyro-Bonsai. Ewald brauchte noch einmal den Kick und drehte eine weitere Solo-Ehrenrunde auf dem zerstörten Rasen. Und irgendwann, als schon bald die Nacht hereinbrach, grölte das ganze Stadion zusammen mit der Mannschaft Auf der Reeperbahn nachts um halb eins.
Nur Georg gab sich Mühe, allen Ansteckungsgefahren zu trotzen. Er blieb in Gedanken ganz beim Urlauber Carlos. „Die beste Offensivleistung der Saison“, gab er betont staubtrocken in analytischem Duktus zu Protokoll. Und dann fiel ihm endlich ein, was Carlos zur galaktischen Weltklasseleistung unseres Jahrhundert-Japaners nun sagen würde, wäre er nicht am Strand, sondern hier: „Ein gutes Spiel reicht nicht.“