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Strafjustiz

Ausbrechender Wahlkampf

 

In Hamburg entkommt ein gefährlicher Straftäter – und wer hat angeblich Schuld? Der Justizsenator. Ein Unsinn!

Erinnert sich noch jemand an Oleg Buchilov? Er war ein Untersuchungshäftling, der 2007 aus dem Hamburger Gefängnis am Holstenglacis entkam. Die Wachttürme der Anstalt waren „im Interesse eines bedarfsgerechten Personaleinsatzes“ nicht besetzt worden, wie die Justizbehörde später erklärte, und die Wachen hatten die automatischen Warnsignale für einen Fehlalarm gehalten. Oder an „Milliarden-Mike“, der sich 2010 während eines Hafturlaubs durch ein Toilettenfenster in der Wohnung seiner Mutter zwängte und verschwand?

2007 leitete der CDU-Mann Carsten Lüdemann die Justizbehörde, 2010 war es der heutige Justizsenator Till Steffen, damals unter Bürgermeister Ole von Beust. Auch die SPD-Senatorin Jana Schiedek, die 2011 ins Amt kam, hatte ihren Ausbruch. Und 2004, als innerhalb von zehn Monaten fünf Häftlinge aus dem gerade neu in Betrieb genommenen „Schweizer-Käse-Knast“ Billwerder ausbrachen, war der CDU-Hardliner Roger Kusch im Amt.

Soeben ist in Hamburg wieder ein Straftäter entkommen, vorübergehend jedenfalls. Von Donnerstag bis Sonntag befand sich ein verurteilter Räuber auf freiem Fuß, der nach verbüßter Haft weiterhin als gefährlich gilt und darum in Sicherheitsverwahrung bleiben sollte. Er war aus der Praxis eines Therapeuten entkommen.

Muss man das skandalös finden? Wohl kaum. Kriminelle neigen dazu, sich nicht an Regeln zu halten, dennoch kann man sie nicht alle in Hochsicherheitstrakte stecken. Der Sicherheitsverwahrte hatte zuvor etliche Therapiesitzungen ohne Fluchtversuch absolviert – warum also hätte man gerade ihn besonders streng bewachen sollen? „Es bleibt immer ein Restrisiko, dass ein Inhaftierter Lockerungsmaßnahmen missbraucht“, sagt Justizsenator Till Steffen. „Wir arbeiten mit Menschen, deren Verhalten nicht komplett vorhersehbar ist.“

Wäre die justizpolitische Debatte in Hamburg eine einigermaßen rationale Angelegenheit, wäre damit alles gesagt. In der Dauererregung eines vorgezogenen Landtagswahlkampfes, den die Opposition betreibt, haben CDU und FDP Steffens Rücktritt oder Entlassung aber schon so oft verlangt, dass sie kaum anders können, als diese Forderung permanent zu wiederholen. Andernfalls müssten sie die Maßstäbe aufgeben, die sie mittlerweile etabliert haben.

Das Ärgerliche an diesen Forderungen ist, dass sie die Themen der Justizpolitik so weit verfehlen. Eine funktionierende Rechtspflege braucht nicht nur Richter und Gesetze, sondern auch Bürger, die sich über ihr Recht und die Bedingungen seiner Anwendung immer wieder neu verständigen. Die Hamburger Politik aber diskutiert über Justiz, als sei die vollständige Abschaffung der Kriminalität erreichbar, wenn sich der zuständige Senator nur endlich dazu bequemen wollte, persönlich vor den Zellen Wache zu schieben.

Justizpolitik ist zum größten Teil Strukturpolitik, Senatoren erben die Probleme, die ihre Vorgänger verursacht haben, und verursachen die Probleme ihrer Nachfolger. Oft geht es um vorausschauende Personalplanung. Stellen müssen besetzt, umgewidmet oder neu geschaffen werden. Rechtspfleger und Strafvollzugsbedienstete müssen rechtzeitig ausgebildet werden, damit man sie später einsetzen kann.

Hamburg hat den teuersten Strafvollzug und besonders viele Haftanstalten, ein Erbe der Ära Kusch. Und die Stadt sperrt auch besonders viele Straftäter ein. Hängt das eine mit dem anderen zusammen? Gemessen an der Zahl der Einwohner, arbeiten hier mehr Richter als fast überall sonst, die Dauer der Strafverfahren aber ist durchschnittlich und hat sich, egal wer gerade regiert, seit vielen Jahren kaum geändert. Warum das so ist und ob sich nicht mehr erreichen ließe – darüber wäre zu reden. Es interessiert aber offenbar niemanden.

Zur Ehrenrettung der Opposition muss man ergänzen, dass sie den justizpolitischen Populismus nicht erfunden hat. Auch die SPD hat das Entkommen des Untersuchungshäftlings Buchilov seinerzeit dem zuständigen CDU-Senator angelastet. Und als herauskam, dass zwei CDU-Regierungen jahrelang vermeintliche Erfolge mit falschen Zahlen begründet hatten, verlangte ein Oppositionspolitiker namens Till Steffen, dass der Justizsenator sich endlich persönlich zu seiner Schuld bekennen solle. „Nie ist er verantwortlich“, klagte Steffen damals, „es sind immer die Mitarbeiter.“