Zuerst war es eine Ratte, dann kam Django hinzu: Ulrich Ladurner betrachtet Hamburg aus ungewöhnlichen Perspektiven, mal erfindet er mehr, mal weniger, aber immer lässt er sich von grob unterschätzter Wirklichkeit inspirieren. Seine neuen Hamburger Geschichten spielen immer dort, wo die Dinge ein Ende finden, in Francos Traum, bei der einsamen Frau Kruse oder dem ewig fluchenden Helmut Schausten. Hier lesen wir die Geschichte eines Japaners, der sich über die Hamburger wunderte.
Herr Haruto Watanabe kam nach Hamburg, als Japan noch eine wirtschaftliche Großmacht war, die in Deutschland mit einer Mischung aus Neugier, Staunen und Furcht betrachtet wurde. Das Industrieunternehmen, bei dem Herr Watanabe arbeitete, eröffnete damals eine Niederlassung in der Stadt. Seine Vorgesetzten fragten ihn nicht, sie befahlen ihm, nach Deutschland zu gehen. Das war für japanische Angestellte normal. Außerdem hatte Haruto Watanabe keine Frau und keine Kinder, er war ungebunden und mit seinen 24 Jahren noch jung.
Haruto Watanabe sollte sich um alles kümmern, was die Niederlassung des Unternehmens in Hamburg brauchte, das reichte von der Ausstattung der Büros mit Möbeln über die Suche nach geeigneten Wohnungen für die Angestellten bis hin zur Bewirtung von Managern, die aus Japan zu Besuch kamen.
Um diese Aufgaben bewältigen zu können, war es freilich wichtig, dass er Deutsch sprach. Das Unternehmen zahlte ihm den Unterricht bei einer Privatlehrerin. Sie hieß Agnes Völker, eine forsche junge Dame, die sich Haruto Watanabe mit dem Satz vorstellte: „Ich bin Agnes und das einzige, was ich über Japan weiß, ist, dass die Japaner Godzilla erfunden haben!“ Dann hob sie die Hände, formte die Finger zu Krallen und tat so, als spuckte sie Feuer: „Godzilla über Tokio!“, fauchte sie und lachte laut. Dann fügte sie den Satz an, der Haruto Watanabe lange nicht aus dem Kopf ging: „Godzilla hin oder her! Ich bin mir sicher, dass wir uns trotzdem gut verstehen wollen!“
Er lächelte und verbeugte sich leicht, wie es in seiner Heimat üblich war. Ein Geruch nach Verbranntem stieg ihm in die Nase, er stammte von Agnes. Haruto Watanabe begann, sich zu fürchten.
In der achten Unterrichtsstunde, Agnes war mit den Fortschritten ihres Schülers sehr zufrieden, legte sie Haruto Watanabe die Ausgaben eines großen deutschen Nachrichtenmagazins auf den Tisch – sie war Abonnentin.
„Hier, die machen eine Serie über Japan!“, sagte Agnes, blätterte im Heft und schlug es auf der entsprechenden Seite auf.
„Lesen Sie, Haruto!“
Haruto Watanabe las, langsam und laut:
„Ist der Vormarsch der Wirtschaftsmacht Japan noch zu bremsen? Oder wird das fernöstliche Inselreich alle anderen Industriestaaten von sich abhängig machen? Die Japaner führen seit Jahren einen Eroberungsfeldzug gegen den Rest der Industriewelt. Erst langsam formiert sich Widerstand gegen die Wirtschaftskrieger.“
Als er zu Ende gelesen hatte, blickte er Agnes direkt in die Augen. Er konnte seine Verstörung über das Gelesene nicht verbergen.
Eroberungsfeldzug!
Vormarsch!
Widerstand!
Am schlimmsten fand der das Wort Wirtschaftskrieger!
Haruto Watanabe stammte aus Hiroshima. Seine Großeltern waren beim Atombombenabwurf im Jahre 1945 ums Leben gekommen, seine Eltern litten an den Spätfolgen der radioaktiven Verstrahlung. Diese Erfahrung hatte aus Haruto Watanabe einen radikalen Pazifisten gemacht.
Wirtschaftskrieger! Das Wort nahm er sehr persönlich.
„Glauben Sie, sehr geehrte Agnes, dass wir Japaner einen Krieg führen?“
„Nein, natürlich nicht.“
„Glauben Sie, dass ich, Haruto Watanabe, hier bin, um einen Krieg zu führen?“
„Aber nein“, versuchte Agnes ihren Schüler zu beruhigen.
Sie bemerkte, wie aufgebracht er war. Das beunruhigte sie. Denn bisher hatte Haruto Watanabe kaum Gefühle gezeigt. Agnes spürte, wie verletzlich er war, und das gefiel ihr.
„Wirtschaftskrieger…“, wiederholte er und starrte sie mit geweiteten Augen an.
„Aber, lieber Haruto, das ist doch nur eine Zeitung!“
„Ja, eine Zeitung, ein große Zeitung!“
„Ja“, sagte Agnes, „aber auch eine große Zeitung schreibt viel, wenn der Tag lang ist!“
„Was meinen Sie mit viel, sehr geehrte Agnes?“
„Viel“, sie zögerte, „viel so Zeugs halt, das man nicht so wörtlich nehmen muss!“
Haruto Watanabe wirkte jetzt noch niedergeschlagener.
Agnes trat auf ihn zu und tat etwas, was sie selbst überraschte: Sie nahm ihn in den Arm. Er ließ es bereitwillig geschehen.
Bald danach waren Haruto Watanabe und Agnes Völker ein unzertrennliches Paar.
Zum Zeichen ihrer Liebe malte Agnes, die einen ausgeprägten Hang zum Kitsch hatte, einen Tyrannosaurus auf die Fensterscheibe ihrer Wohnung.
„Du bist mein Godzilla!“, sagte sie.
Er lächelte verlegen, und dachte insgeheim darüber nach, ob er sich vielleicht doch in die falsche Frau verliebt hatte.
Und bevor sie ihn in den Arm nahm, sagte sie: „Das Abo habe ich übrigens gekündigt!“