Lesezeichen
‹ Alle Einträge
FC St. Pauli

Her mit der Reset-Taste!

 

Obwohl der FC St. Pauli auf dem letzten Tabellenplatz steht, ist unser Autor bester Urlaubsstimmung. Er will die Saison einfach noch mal von vorne anfangen.

Es fehlten wichtige Leistungsträger. Als das 0:1 fiel, stand ich nicht im Stadion, sondern auf der Spitze des Brisi, eines 2.279 Meter hohen Felsmonuments im schweizerischen Toggenburg, und schaute senkrecht hinab auf das grüne Wasser des Walensees. Als Himmelmann das 0:2 kassierte, steuerte ich schon der Erfrischung entgegen, dem sauren Most auf der Alp Sellamatt.

Wo war Carlos? Der trieb sich am Samstagnachmittag statt auf der Gegengeraden in Berlin rum, um den 60. Geburtstag eines Zeitgenossen zu feiern. Klaus hatte zwar mit Selfie auf WhatsApp vor Wochen noch sein Saison-Premierenstadionbier im Vorbereitungsspiel gegen Sevilla öffentlich gefeiert. Nun aber, während des ersten Ernstkampfs zu Hause, rumpelte er irgendwo durchs nordeuropäische Gelände, vermutlich auf der Suche nach ausgefallenen Kulinarien. Und meine Tochter Ana, die vom nächsten Heimspiel an in dieser Kolumne von der Südkurve aus mit mir (Gegengerade) zusammen ihren Senf zum Spiel abgeben wird, war noch nicht zurück aus der Türkei.

Somit fehlte es (weil der DFB erneut darauf bestanden hatte, mitten im Urlaub die Saison zu starten) trotz ausverkauftem Millerntorstadion gegen Braunschweig auf den Rängen an maßgeblicher Unterstützung und Sachkompetenz. Als logische Folge davon trat die Mannschaft des FC St. Pauli unsicher auf, spielte Fehlpässe, beging Stockfehler. Ohne uns Leistungsträger auf der Gegengeraden versaute sie den Heimauftakt nach einem verlorenen Kopfballduell von Marc Hornschuh und einem Slapstickfehler von Sören Gonther verdient mit 0:2.

Immerhin stand wenigstens Fred am Samstag gegen Braunschweig auf der Gegengeraden, sodass ich mich, weitab im Gebirge, nicht nur am Liveticker festhalten musste. Ich konnte mir auch anhand einiger gesimster Flüche und Verzweiflungsvokabeln halbwegs ein Bild vom Auftritt unserer Kicker machen. Es wurde ein tristes Bild, das Trainer Ewald Lienen anschließend in der Pressekonferenz noch weiter ausschmückte: Von der ersten Minute an seien wir „deutlich unterlegen“ gewesen. Wir hätten „kein Mittel gefunden, um den Gegner auszuspielen“, seien „immer hinterher gelaufen“ und zeigten unter dem Strich „weniger als nötig, um in der zweiten Liga zu bestehen“.

Der Blick heute Morgen auf die Tabelle offenbart die Misere: zwei Spiele, null Punkte, letzter Platz. Nach der guten vergangenen Saison fühlt sich dieser Saisonstart an wie der schlechteste seit Erfindung des Stadionzeitungsdrucks. Ich verabrede mich mit Fred zum Krisentelefonat. Das ganze Wochenende, sagt Fred, habe er nachdenken müssen – darüber, was er mir heute in seiner Analyse kundtun könnte. Ich höre, wie er am andern Ende der kabellosen Leitung den Espresso in einem Schluck vernichtet und dann geheimnisvoll orakelt: „2010!“

Da ich nicht errate, worauf er hinaus will, antworte ich: „100-Jahr-Jubiläum.“ Dann fragt Fred: „Erinnerst du dich an Holger Stanislawski?“

Diesmal weigere ich mich, auf seine Geheimniskrämerei zu antworten, weil ich befürchte, dass er mit der Erwähnung des Ex-Trainers und aktuellen Rewe-Geschäftsführers und TV-Experten eine Übungsleiterdiskussion in Gang bringen möchte – was ich angesichts der Erfahrungen mit Ewald Lienen für die bescheuertste Panikreaktion halten würde.

Aber Fred will etwas anderes sagen. Etwas Kluges, etwas Aufbauendes! Stanislawski, sagt er, habe Anfang März 2010 nach drei Niederlagen mit seiner weltberühmten Reset-Brandrede die vorübergehend erfolglose Mannschaft zurechtgewiesen und eine Kehrtwende gefordert: „Ab heute wird die Reset-Taste gedrückt. Wir fangen wieder bei null an. Wir haben 0:0 Tore und null Punkte.“ Das habe Stanislawski damals gesagt, sagt Fred.

Endlich verstehe ich, worauf Fred hinaus will. Reset-Taste drücken, nochmal von vorn. Denn am Ende jener Saison stand: der Aufstieg in die erste Liga.

Ich erinnere Fred nicht daran, dass wir schon ein Tor haben und sich die Situation daher im Detail nicht mit jener von März 2010 vergleichen lasse. Denn im großen Ganzen halte ich die Reset-Strategie für richtig. Wir strafen den DFB-Mittsommer-Spielplan mit Nichtbeachtung und starten die Saison noch einmal neu, dann, wenn es uns passt. Nach dem Urlaub. Am 28.8. auswärts gegen Dresden. Zu dieser Strategie passt auch der kommende Freitag ausgezeichnet: Ähnlich wie in einer gepflegten Vorbereitungszeit erwartet uns im Pokal ein lustiger, harmloser Aufbaugegner (Lübeck).

Danach kann’s losgehen. Ich lehne mich bis dahin in die Sonne, genieße optimistisch den weiteren Urlaub. Noch ist nichts passiert. Noch ist nichts verloren.