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Wo die Dinge ein Ende finden

Herr Schausten verschwindet

 

Zuerst war es eine Ratte, dann kam Django hinzu: Ulrich Ladurner betrachtet Hamburg aus ungewöhnlichen Perspektiven, mal erfindet er mehr, mal weniger, aber immer lässt er sich von grob unterschätzter Wirklichkeit inspirieren. Seine neuen Hamburger Geschichten spielen immer dort, wo die Dinge ein Ende finden. In den ersten Folgen ging es um den dicken Herrn Maibaum, Francos Traum und Frau Kruse, heute um den ewig fluchenden Helmut Schausten.

An einem kalten Wintermorgen, die Temperatur lag bei minus drei Grad, machte sich Helmut Schausten auf den Weg zur Arbeit. Er war missmutig gestimmt, weil es Montag war, und er schon seit vielen Jahren seine Arbeit verabscheute. Bei dem Gedanken an den von seinen graugesichtigen Kollegen bevölkerten Büroblock überkam ihn regelmäßig Ekel. Im Laufe der Jahre hatte er zwar mehrere Versuche unternommen, eine andere Arbeitsstelle zu finden, doch waren sie ohne Ergebnis geblieben.

Shausten
Auf dem U-Bahnhof Hoheluftbrücke @ Ulrich Ladurner

Helmut Schausten war in seinem Alter und mit seinen Kenntnissen auf dem Arbeitsmarkt schwer vermittelbar. Das wusste er, doch akzeptieren konnte er es nicht. Er fühlte sich zurückgewiesen. Die Bitterkeit darüber vergiftete sein Herz. Es gab inzwischen fast nichts mehr, worüber er sich nicht aufregte.

Die Zielscheiben seiner Tiraden waren „rücksichtslose“ Radfahrer, „gierige“ Banker, „dreckige“ Kinder und „freche“ Ausländer. Nichts und niemand war vor Schaustens Wut sicher. Wobei er sie nicht laut hinausschrie, denn er war ein stiller Charakter. Als Hamburger gab er viel auf Zurückhaltung. Daher kaute er auf seinem Hass herum wie auf einem sauer schmeckenden Bonbon. Seine Gesichtszüge verzerrten sich dabei. Die Worte, die ihm während seiner Wutanfälle aus dem Mund kamen, platzten kaum hörbar auf seinen Lippen. Wie grüne Schaumbläschen.

„Blöde HVV…“, murmelte er an diesem Montagmorgen, „saublöde HVV… viel zu teuer… und dann kommen sie nicht mal!“
Eben noch hatte die elektronische Tafel drei Minuten angezeigt. Doch dann war sie erloschen, als hätte jemand den Strom abgedreht.
Schausten fluchte vor sich hin und blickte um sich, vielleicht war da jemand an dem sich sein Zorn jetzt festmachen konnte. Nichts. Der Bahnsteig war menschenleer. Schausten blickte auf die Rolltreppe. Doch niemand kam. Die Rolltreppe stand still.

„Stromausfall! Das auch noch, blöde HVV“, murmelte Schausten, „allesamt Idioten!“
Während er so vor sich hin schimpfte, beschlich ihn ein seltsames Gefühl. „Warum ist denn keiner auf dem Bahnsteig?“
Schausten blickte auf die Uhr, es war 8.30. Normalerweise drängten sich hier die Menschen um diese Zeit. Wieder schaute er zur Rolltreppe, sie bewegte sich nicht, auch die Anzeigetafel blieb erloschen.
Schausten spitzte die Ohren. Er hörte nichts. Kein Verkehrslärm. Nichts. Eine gewisse Beunruhigung machte sich in ihm breit. Doch er verdrängte sie schnell, indem er wieder schimpfte.
„HVV, blöde HVV!“

Dabei ging er den leeren Bahnsteig entlang und kam an einer riesigen Werbetafel vorbei. Das Plakat auf der Tafel war an mehreren Stellen eingerissen. So, dass man verschiedene Schichten erkennen konnte.
„Ganz anders & doch gleich“ stand auf dem obersten Plakat. Werbung für Zigaretten.
„Wie kann man rauchen! Wer kann bloß so dumm sein“, maulte Schausten und riss die Plakatwerbung weiter auf. Das dicke, verklebte Papier gab eine lautes Geräusch von sich. Schausten bereitete das Vergnügen. Er riss weiter und weiter und drang so immer tiefer in die Schichten der Werbetafel vor.
Schließlich kam ein leuchtend rotes Papier zum Vorschein: „DIR“ konnte Schausten lesen.

Da vernahm er plötzlich Geräusche. Schüsse, Explosionen, Schreie. Sie schienen direkt aus dem roten Plakat zu kommen, aus der Werbetafel. Wie konnte das sein?

Ungläubig legte Schausten weitere Teile des leuchtend roten Plakates frei. Dabei schwoll der Lärm an. Wie aus einem tiefen Schacht rauschte er ihm dröhnend entgegen. Er legte nun vorsichtig die Schrift auf dem Plakat frei. Inzwischen hatte sich der Lärm zu einem ohrenbetäubenden Tosen gesteigert.
Kanonen, dachte Schausten, Artillerie, Maschinengewehre…
Er starrte nun auf die freigelegte Schrift:

ES LIEGT AN DIR!
TU DEINE PFLICHT!
ES GEHT UM ALLES!

Schausten fühlte sich von diesen Aufrufen unwiderstehlich angezogen. Er hob den Fuß an und stieg in das Werbeplakat, wie andere Leute in einen Bus steigen.

KRIEG & PROPAGANDA 14/18

Das konnte Schausten noch lesen, bevor er weggerissen wurde und aus Hamburg verschwand, um irgendwo auf den Schlachtfeldern der Vergangenheit seinen Hass auszuleben.