In den Hamburger Kammerspielen hatte Jennifer Haleys Internetfiktion „Die Netzwelt“ Premiere. Eine Neunziger-Mediendebatte, die zum Beziehungsdrama wird.
Frauen die Männer spielen, Männer die Frauen spielen, Bühnenbilder, in denen Realitäten wild durcheinanderspringen: Alles legitime und gern bemühte Kunstgriffe, mit denen sich zeitgenössische Regiekunst vom ältlichen Bühnennaturalismus absetzt, der bis in die Fünfziger gebräuchlich war. Aber was, wenn die Multiplikation der Wirklichkeit das deutsche Regietheater überholt? Wenn plötzlich das Internet mitspielt?
In Jennifer Haleys Die Netzwelt kommt eine optimierte 3-D-Version des Internets auf die Bühne, in denen alle alles sein und machen können. Alte Männer können in die Körper von virilen Elfen schlüpfen oder sich als Schulmädchen von pädophilen Freiern verführen lassen, von denen man natürlich auch nicht wissen kann, ob sie nicht in der wirklichen Wirklichkeit Frauen sind. Uffz, kompliziert! Wenn schon die Stückwirklichkeit so verfriemelt ist, muss man es auf der Bühne lieber einfach und erwartbar halten – so dachte sich wohl Regisseur Ralph Bridle und inszenierte das Science-Fiction-Drama der US-Autorin als eher solides Konversationsstück.
Die Bühne ist durch eine Glaswand geteilt, hinten liegt das virtuelle, mit Plüschtieren und Kerzenlicht ausgestattene Kinderbordell, durch die der Sugardaddy Sims (Christian Kohlund) im Hugh-Hefner-Bademantel stiefelt und tätschelt. Umsorgt wird er von der angeblich 9-jährigen Iris (Annika Schrumpf), die aber eher im Teenager-Lolita-Modus programmiert ist und sich freudig alles gefallen lässt, inklusive Ermordetwerden, weil sie im nächsten Moment wiederauferstanden ihrem „Papa“ ebenso freudig wieder zu Diensten sein kann. Weil das ein zwar virtuelles, aber eben zutiefst abstoßendes Geschehen ist, wird der Übeltäter Sims, der dieses simulierte Missbrauchsparadies betreibt, auf der Vorderbühne von der gouvernantenhaften Ermittlerin Morris (Neda Rahmanian) verhört.
Natürlich geht’s weniger um das Verhör als um eine Mediendebatte, die in etwa so verläuft wie in den Neunzigerjahren die öffentliche Auseinandersetzung über Splatterfilme: „Es sind nur Bilder!“ „Bilder schaffen Realität!“ „Das ist aber ein Ort, in dem diese Menschen Dampf ablassen können!“ „Es gibt eine Grenze – sogar in der Fantasie!“ „Das werden Sie nie erzwingen!“ So mäandert das Stück ein wenig zwischen Horrorthriller und moralphilosophischem Räsonnement hin und her. Und irgendwann, die Dramaturgie will es so, entwickelt sich daraus ein Versteckspiel-Melodrama mit virtuellen Identitäten: Wer steckt im Körper des Agenten, der für die Behörde gegen „Papa“ ermittelt? Wie ist er zum Pädosexuellen geworden? Wer ist das Mädchen Iris in Wirklichkeit? Und so weiter.
Unterhaltsam zwar, trotzdem ahnt man, dass das Stück den moralphilosophischen Fragen, die es aufwirft, nicht wirklich gewachsen ist und lieber ein konventionelles Beziehungsdrama strickt, als dem bedrohlichen Szenario um die Auflösung des Menschen in virtuellen Realitäten in aller Konsequenz nachzugehen.
„Die Netzwelt“ von Jennifer Haley, Regie: Ralph Bridle, Ausstattung: Mascha Deneke, mit Björn Ahrens, Marco Albrecht, Christian Kohlund, Neda Rahmanian, Annika Schrumpf. Hamburgische Kammerspiele, Hartungstraße 9-11