Joan Baez wurde in der Welt der langhaarigen Rockmusiker oft belächelt: zu brav, zu politisch. Doch im Hamburger Stadtpark liebt man sie – trotz Mistwetter.
Die Gleichheit aller Menschen, Gewaltfreiheit und Wohltätigkeit gehören zu den Grundsätzen des Quäkertums, untereinander nennen sich Quäker „Freunde“. Joan Baez ist mit dieser aus der frühen Neuzeit Englands stammenden Religion aufgewachsen, sie ist der Quell ihres bemerkenswerten Wesens und Werdens. Fluchen wird dabei aber offenbar geduldet: Bei grauem Abendhimmel, kaltem Wind und ersten Regentropfen begrüßt sie das Publikum vor der Stadtparkbühne mit „Scheiße Wetter“.
Unplanmäßig schiebt Baez dann nach Railroad Boy auch gleich noch den naheliegenden Bob-Dylan-Song A Hard Rain’s A-Gonna Fall ein. Helfen tut es nicht, im Gegenteil, der Regen wird an diesem Mittwochabend fortan schlimmer. Vielleicht hätte Blue Sky, ihre hübsche Allman-Brothers-Coverversion von 1975, den Draht nach oben verbessert, so aber gibt es kein Entrinnen. Zum Glück sind in modernen Zeiten der Regenradar-Apps auch Alt-68er vorbereitet: Regencapes in allen Farben (Baez nimmt es amüsiert zur Kenntnis), Berg- und Gummistiefel, wohin man blickt. Gelbe Öljacken, früher ein Markenzeichen im Norden, sind dagegen rar geworden.
Musikalisch befand sich Joan Baez nur einmal an der Spitze einer Bewegung: 1960 bis 1964, ganz zu Beginn ihrer Karriere. Sie wurde über Nacht zum Aushängeschild der neuen Folk- und Bürgerrechtsszene an der US-Ostküste um Woody Guthrie und Pete Seeger. Sie war noch nicht mal 20. Madonnengleich, mit langen schwarzen Haaren und glockenhellem Sopran sang sie, allein mit Gitarre, traurige alte Lieder über Mord, Armut und Eifersucht. Amerika und auch England lagen ihr zu Füßen.
Den anschließenden Aufbruch in die neue Rockwelt hat sie aus nächster Nähe und doch nur in der zweiten Reihe miterlebt, als ihr Freund Bob Dylan und andere wilde Kerle Gitarrenverstärker und Drogen für sich entdeckten. Irritiert musste sie erkennen, dass Dylan nicht ihre Nähe suchte, weil er für sie und ihre Sache glühte – sondern, um bekannt zu werden. In D.A. Pennebakers berühmtem Konzertfilm Don’t Look Back über Dylans Englandtournee 1965 lässt sich das schmerzhaft beobachten. Hat er sie auf die Bühne gebeten, wie sie es zwei Jahre zuvor tat, als ihn niemand kannte? Nein.
In der langhaarigen Männer-Rockwelt hat man sie dann oft belächelt: Geträller, zu brav, zu politisch. Dass sie 1968 das gesammelte Marihuana von Ex-Mann David Harris und dessen Kommune im Klo versenkte, machte die Sache vermutlich nicht besser. Es ist ihrem Charakter geschuldet, dass sie sich nicht beirren ließ. Es galt, Unrecht am Menschen zu erkennen, zu benennen und zu bekämpfen. Auch, aber nicht notwendigerweise, mit Musik. Daran hat sich nie etwas geändert.
Im Stadtpark sind kaum junge Zuschauer dabei. Alles scheint aus einer anderen, verblassenden Ära. Dennoch, es sind die universellen, althergebrachten Moritaten wie Silver Dagger, viertes Lied des Sets, die nie ihre Wirkung verfehlen werden. Es stammt vom ersten Album (Joan Baez, 1960), das kürzlich vom National Recording Preservation Board, einer Institution des amerikanischen Kongresses, offiziell in die Liste erhaltenswerter Kulturgüter aufgenommen wurde.
Es ist im Stadtpark das erste Stück, das mit ihrer kleinen Band zur Aufführung kommt. Multi-Instrumentalist Dirk Powell brilliert an Banjo, Gitarre, Akkordeon, Bass und Klavier. Er bereicherte schon Platten und Konzerte von Linda Ronstadt, Kris Kristofferson, Jack White und dem Nashville-Rebell Steve Earle, der wiederum 2008 das letzte Album von Joan Baez produzierte. Ihr Sohn Gabriel Harris spielt fantasievoll Perkussion und ist sich nicht zu schade, für seine Mutter auch mal nur mit dem Schüttelei zu rasseln, wie im eingängigen Strange Rivers, einem Song von John Stewart.
Die 23-jährige Backgroundsängerin Grace Slumberg hält sich sehr zurück, um Joan Baez den angemessenen Raum zu lassen. Denn deren Stimme hat an Strahlkraft verloren, sie ist leiser und etwas brüchig geworden. Vieles singt sie eine Oktave tiefer als früher, man muss sich schon ein wenig bemühen, um „ihren“ Gesang zu erkennen. Zu keiner Sekunde aber glaubt man, die fröhliche, kurzhaarige Frau in Jeans sei 74 Jahre alt. Ihre Gesten sind jugendhaft, mit Musiker Powell wagt sie sogar ein Tänzchen.
Neben all den ersehnten Klassikern (Diamonds & Rust, House Of The Rising Sun, Me And Bobby McGee) singt sie auf Deutsch Wenn unsere Brüder kommen, ein Aufruf zur Gewaltfreiheit von Konstanin Wecker. Und, als Weltpremiere, Last Leaf von Tom Waits. Nach wie vor sagt sie bei laufendem Song Zeilen an, die anschließend mitgesungen werden. Hier: „I’m the last leaf on the tree, the autumn took the rest, but they won’t take me„. Damit können sich auch die Zuschauer identifizieren, man stimmt lautstark ein. Kommentar Joan Baez: „Sehr schön!“
Sie spielt wie eh und je eine kleine, wunderschöne Westerngitarre von Martin (Modell 0-45), witterungsbedingt muss mehrfach nachgestimmt werden. Das wird alles ganz unaufgeregt praktiziert, man scherzt untereinander, das tropfnass ausharrende Publikum ist sich ihres Mitgefühls sicher. Grundstimmung: ungezwungene Hausmusik unter Freunden.
Das Zugaben-Prozedere bei dem Mistwetter entfällt, nach The Boxer verbeugen sich die Musiker und spielen gleich weiter: Imagine von John Lennon, Donna Donna, das jiddische Lied über die Schwalbe und das Kälbchen, und die wunderbare Hymne Here’s To You aus dem Film Sacco und Vanzetti (1971), die Joan Baez mit Ennio Morricone komponierte. Alle singen mit. „See you next time!“ und die einsetzende Hintergrundmusik werden ignoriert – Joan Baez unterschätzt die Standfestigkeit der Norddeutschen. Für Blowin’ In The Wind kehrt sie noch einmal zurück.