Der FC St. Pauli dominiert in Paderborn abermals – zumindest für 45 Minuten. Direkt vor dem Tor aber verkrampfen die Kiezkicker. Hemmen die gestiegenen Erwartungen?
Ich spüre, wie die guten Leistungen der vergangenen Wochen auch in mir Erwartungen wecken. Auch wenn ich mich immer wieder ermahne, nicht dieser Euphorie zu verfallen, die schon nach ein paar guten Spielen die Hamburger Sportjournalisten erfasst, von dort aus auf die Fans und als Anspruch und Ehrgeiz auf die Spieler überspringt.
Ewald Lienen hat die junge Mannschaft des FC St. Pauli auf ein Leistungsplateau gehoben, das beeindruckend ist. Regelmäßig dominieren die Jungs vom Kiez die erste Halbzeit beinahe nach Belieben. Allerdings nur die ersten 100 Meter des Fußballfeldes. Laut Fifa-Statuten ist dieses aber etwa 105 Meter lang. Die letzten fünf Meter gehörten auch am Sonnabend dem Gegner, dem SC Paderborn. Um genauer zu sein: Torhüter Lukas Kruse. Schon in der vierten Spielminute wehrte er für die Heimmannschaft einen tückischen Aufsetzer von Sebastian Maier ab, nur 60 Sekunden später parierte er einen wuchtigen Kopfball von Philipp Ziereis und dann auch noch den Nachschuss von Marc Rzatkowski.
Nachdem Lennart Thy in der 13. Minute nach schönem Zuspiel von Maier allein vor Kruse auftauchte, verkürzt dieser so geschickt den Winkel, dass unser Stürmer über das Tor spitzelte. Die fünf Meter vor dem gegnerischen Tor waren wieder einmal nicht zu überwinden.
Ich saß mit Anna zusammen im Tutto Sports in Ottensen, neben uns ein paar alte Bekannte, die am Abend davor ein wenig über die Stränge geschlagen hatten. Es herrschte eine merkwürdige Stimmung. Es mischte sich die Enttäuschung über die verpassten Chancen mit einer Vorahnung, dass diese Wucht in der zweiten Halbzeit nicht zu halten sein würde. Und ich glaubte zu erkennen, dass sich auch auf dem Platz in Paderborn ein gewisser Frust verbreitete. Waldemar Sobota etwa beschwerte sich bei Maier, dass dieser direkt abzog, anstatt ihm, dem vermeintlich besser postierten Kiezkicker, den Ball zuzuschieben.
Andererseits fühlte ich tief in mir auch Zuversicht, die lange nicht mehr so präsent war. Auch in diesem Spiel würden wir uns auf unsere eingespielte Abwehr verlassen können, dachte ich in der Halbzeitpause. Und tatsächlich: Auch wenn die Paderborner danach stärker wurden, es gelangen ihnen keine Treffer. Daniel Buballa gewann 75 Prozent seiner Zweikämpfe auf der Außenbahn und unsere Innenverteidigung stand gewohnt sicher. Ergebnis: null zu null.
In Annas Facebook-Zeitlinie sah ich nach dem Spiel eine dieser Weisheiten, die von alten chinesischen Denkern oder Paulo Coelho stammen und tausendfach geteilt werden. Ratschläge in Schnipselform, die gerade in Mode sind im größten sozialen Netzwerk. „Wenn Du es erzwingen musst, lass es“, stand auf Annas Seite. Ein Spruch, der das Offensiv-Spiel des FC St. Pauli auf den Punkt brachte.
Ich habe das Gefühl, dass uns die Eroberung der letzten fünf Meter noch viel Zeit kosten wird. Und ich nehme mir vor, den Boys in Brown diese auch zu geben. Ich bemühe mich, meine Euphorie im Zaum zu halten und aus ihr keine Ansprüche an die Spieler des FC St. Pauli abzuleiten. Dieses Denken scheint sie zu sehr unter Druck zu setzen. Sie entwickeln einen Ehrgeiz, der ihnen im Weg steht, der ihnen auf den letzten fünf Meter die Lockerheit nimmt.
Ich erfreue mich einfach an den eroberten hundert Metern Rasen. Auf der Hochebene, auf die uns Ewald Lienen geführt hat, lässt es sich auf jeden Fall eine Weile aushalten.