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Wohnen auf St. Pauli

Auf der Reeperbahn morgens um halb 9

 

Wenn die letzten ihr Nach-Hause-Wegbier leeren, die Stadtreinigung die Straße kehrt, gehe ich aus meiner Haustür. Über das Leben an der Reeperbahn.

Der Geruch von Bier hängt in der Nase, wenn ich morgens das Haus verlasse. Die Haustür ist blockiert. Mal liegt ein Obdachloser davor, eingemummelt zwischen Schlafsack und Supermarkttüten, mal ein Nachtschwärmer, der meinen Hauseingang zu einer Übernachtungsmöglichkeit erklärt hat. Meist aber stehen dort die Trinker, die die ersten und besten Stammkunden des Pennymarktes sind. Alltag an der Reeperbahn, Alltag vor meiner Haustür.

Arbeiten auf der Reeperbahn
Die Reeperbahn. © dpa

Und das 24 Stunden. Denn abends stehen sie immer noch dort. Die Straßen sind inzwischen voller geworden, die Menschen betrunkener, jünger. Das geht so, an fünf Tagen in der Woche, von Mittwoch bis Sonntag. Nur Montag und Dienstag hat der Kiez Wochenende. Dann ist es ruhiger. Dann rauschen nicht im Stundentakt Polizeisirenen an meinem Fenster vorbei und der konstante Lärmpegel, wie ihn nur betrunkene Menschenmassen produzieren, senkt sich.

Verstehen Sie mich nicht falsch, ich beschwere mich nicht. Aber meine Besucher fragen mich manchmal, ob sich mein Alkoholkonsum verändert habe, seitdem ich an der Reeperbahn wohne. Ob ich auch an fünf Tagen im Rausch untergehe.

Jeden Tag sehe ich, wie sich die Gewohnheitstrinker von Bier zu Kümmel und Korn steigern, wie Jugendliche ihren Exzess und den letzten Burger mit Pommes rot/weiß wieder auskotzen, wie Frauen apathisch an meiner Hauswand lehnen, unfähig, sich von den Freundinnen ins Taxi setzen zu lassen. Die Lust auf Alkohol vergeht schnell.

Ob ich mich dann daran störe, fragen meine Besucher, an den Fäkalien und den anderen Flüssigkeiten, die sich an meiner Haustür entladen. Nein, stören ist nicht das richtige Wort. Abstumpfen wohl eher.

So gleichgültig wie ich jeden Morgen die Paste auf die elektrische Zahnbürste schmiere, sehe ich auch die Bulgaren am Nobistor, die zu acht oder mehr in einem VW-Sprinter schlafen, sich dann auf dem Bürgersteig die Zähne putzen und am Nachmittag, wenn ich von der Arbeit komme, auf Campingstühlen den schmalen Grünstreifen besetzen.

Abends habe ich von meinem Fenster einen guten Blick auf die Damen, die jeden Abend pünktlich an ihrem Platz stehen. Die Prostituierten sind fleißig. Wie Ameisen wuseln sie in ihren neonfarbenen Jacken oder weißen Moonboots zu ihrer Nahrungsquelle und wieder zurück zu ihrem Nest. Jede Nacht. Bis zum Morgen. Dann beginnt der Zyklus an der Reeperbahn von neuem.

Trotzdem mag ich den Charme von St. Pauli, meist auch die Penner vor dem Penny. Ich beginne zu verstehen, warum die Alteingesessenen sich hier so wohl fühlen und sich weigern, auf andere Stadtteile auszuweichen. Lieber habe ich einen Sexschuppen als das Schulterblatt vor meiner Tür.

Wie lange noch, weiß ich nicht. Die Gentrifizierung hat auch mein Haus eingeholt. Die Wohnungen sollen einem Spa-Wellness-Bereich weichen. Mit Happy Ending. Ob auch ich ein Happy Ending, eine neue Bleibe hier finde? Mein Herz schlägt jedenfalls für Pauli.