Die Niederlage des FC St. Pauli gegen 1860 München war ein Debakel – das im Nachhinein alle schönreden. So sehr, dass unser Kolumnist schon Schlimmes befürchtete.
Fußballweise sind wie Wirtschaftsweise: Sie garantieren eine permanent hohe Fehlerquote in ihren Prognosen. Einzig die Meckerecke Carlos, sagt meine langjährige Statistik, hat eine bessere Bilanz. Carlos irrt selbstverständlich nie. Doch am Freitagabend zweifelte ich erstmals daran, dass der Seher von der Gegengeraden (Block E) seine makellose Bilanz in die Zukunft retten könnte. Denn Carlos meckerte: „Am Ende werden alle behaupten, es hätte nur ein Quentchen gefehlt.“
Unmöglich, dass es so sein wird, antwortete ich Carlos. Denn ich hatte wie er ein Spiel gesehen, in dem es „an allem fehlte“. Nach fulminanten ersten Minuten erspielten wir uns keine Torchancen mehr. Den Münchnern dagegen schenkte Enis Alushi mit zwei Blackouts zwei Gelegenheiten für zwei Tore – die sie nutzten. So was lässt sich nicht schönreden.
Bereits zum 13. Mal in dieser Saison waren wir nach einem Rückstand nicht in der Lage, das Spiel zu drehen. Der Mannschaft fehlt es an der Fähigkeit, sich aufzubäumen. Kurz gesagt: Der Sieger steht fest, sobald wir in Rückstand geraten. Ich konnte mir daher nicht vorstellen, dass der fußballweise Meckerer erneut recht behalten könnte. „Nein“, sprach ich zu Carlos, „keinem wird es gelingen, diesem Spiel Positives abzugewinnen.“
Aber da hatte ich die Rechnung ohne die Würdenträger im Verein und die Akteure gemacht. Als ich im Netz und in den Zeitungen die Reaktionen las, musste ich feststellen, dass das Unmögliche eingetreten war. „Ich finde, dass wir phasenweise guten Fußball gespielt haben. Nur das gewisse Etwas hat gefehlt“, sprach zum Beispiel Sportchef Thomas Meggle. Und er fügte an: „Insgesamt haben wir im Mittelfeld gefällig agiert.“ Ein genauso gefälliges Spiel behauptete Kapitän Sören Gonther gesehen zu haben: „Eigentlich hatten wir das Spiel im Griff.“
Ich beginne mich allen Ernstes zu fragen: War Gonther am Freitag im Stadion? Aber auch Marc Hornschuh bilanzierte: „Wir haben von der ersten Minute an ein ordentliches Spiel gemacht.“ Und Christopher Buchtmann: „Das frühe Gegentor war ärgerlich, wir haben danach aber gut weitergespielt.“
Mein erster Gedanke: Die haben was geraucht! Und ich überlegte, wer von der Mannschaft wohl nicht am Joint gezogen, keine Glückspille genascht und auch kein Koks durch die Nase gepfiffen hat. Der Trainer! Auf Ewald Lienen, da war ich mir ganz sicher, ist Verlass. Ein so herber Realitätsverlust, um die 0:2-Niederlage gegen die Münchner Löwen positiv bewerten zu können, ist bei Lienen undenkbar.
Hastig suchte ich auf der FC-Webseite nach dem Video von der Pressekonferenz. Ich hörte folgende unglaubliche Aussage, die mich, wäre ich gläubig, vom Glauben hätte abfallen lassen: „Wir haben heute ein gutes Heimspiel gezeigt.“ Einzige Möglichkeit, mir darauf einen Reim zu machen: Auch Lienen hat was genommen. Oder sollte es für den vereinsweiten Realitätsverlust etwa eine andere Ursache geben?
Die Lösung für das Rätsel entdeckte ich am Montag gegen Mittag. Twitter-Meldung des FC: „Wichtige Personalentscheidung: St. Pauli verlängert den Vertrag mit Chefcoach Ewald Lienen vorzeitig bis 2018!“ Das muss es gewesen sein: Die Mannschaft, vorab über die erfreuliche Personalie informiert, hat am Freitag im Freudentaumel gespielt. Eine Niederlage gegen München – kassiert vor lauter Glück.