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Volksentscheid

Wer hat da noch den Überblick?

 

Der Verein Mehr Demokratie will die Landesverfassung ändern, um den Volksentscheid zu retten. Ziemlich kompliziert und möglicherweise sogar verfassungswidrig.

Die Praxis der Demokratie ist arbeitsteilig – wie sehr, fällt manchmal erst dann auf, wenn die Aufgaben neu verteilt werden. Wer muss was verstehen und entscheiden können? – vor allem darum geht es.

In der traditionellen Form der Gewaltenteilung müssen Bürger bloß alle paar Jahre mal wählen, und zwar nur zwischen Parteien. Sachfragen mit all ihren Details können sie dann ihren Mandatsträgern überlassen, und was diese tun und lassen dürfen, darüber wachen im Zweifel professionelle Fachleute, Verwaltungs- und Verfassungsrichter nämlich. In Hamburg ist diese Form der Arbeitsteilung auf dem Rückzug. Bürger müssen, ob sie wollen oder nicht, selbst zu Experten werden, sie müssen sich in Fragen der Schulpolitik oder der Energieversorgung einarbeiten, wenn einzelne Initiativen genug Unterschriften sammeln, um dem Parlament solche Entscheidungen aus der Hand zu nehmen.

Nun ist die nächste Komplexitätsstufe erreicht: Bürger sollen Verfassungsexperten werden. Der Verein Mehr Demokratie will die Hamburger Landesverfassung ändern – und das nicht etwa zur Förderung irgendeines überschaubaren Anliegens, Tierschutz beispielsweise, sondern mit Blick auf die Praxis der Gewaltenteilung selbst. Die Kampagne trägt den griffigen Titel „Rettet den Volksentscheid“, was sich dahinter verbirgt, ist für Laien kaum leichter zugänglich als der Quellcode eines Computerprogramms.

Die öffentliche Debatte drehte sich bislang nur um die Regeln für Parlamentsreferenden, also von der Bürgerschaft selbst auf den Weg gebrachte Volksabstimmungen wie jene zur Olympiabewerbung. In Wirklichkeit geht es um erheblich mehr. Allein der reine Text der zusätzlichen oder geänderten Bestimmungen, die der Verein Mehr Demokratie an unterschiedlichen Stellen in die Verfassung einfügen möchte, füllt fünf Seiten. Die Begründung, die man lesen muss, um die Idee des Ganzen zu verstehen, ist beträchtlich umfangreicher – und die eigentliche Debatte darum, was diese Neuerungen bewirken, wem sie nützen und wem schaden würden, hat damit noch gar nicht begonnen.

Einige der Vorschläge schaden wahrscheinlich nicht und wären sogar sinnvoll, wenn man es mit einer bösartigen Bürgerschaft zu tun hätte, die permanent versuchte, Volksinitiativen durch Verfahrenstricks zu vereiteln – wovon der Verein in der Tat auszugehen scheint. Verlängerte Fristen für Unterschriftensammlungen fallen in diese Kategorie: Sie könnten unter Umständen verhindern, dass an sich mehrheitsfähige Initiativen schon an der Notwendigkeit scheitern, die erforderlichen Unterschriften mitten in den Sommerferien oder an kurzen, dunklen Wintertagen zusammenzubekommen.

Anderes ist ärgerlich, etwa der Versuch, en passant die Zahl der für einen erfolgreichen Volksentscheid erforderlichen Stimmen zu verringern. Das kann man richtig oder falsch finden, im Kleingedruckten einer Kampagne, der es vordergründig nur um das Parlamentsreferendum geht, hat eine solche Forderung nichts verloren.

Wiederum anders zu beurteilen ist der Umstand, dass die Vorschläge, die Mehr Demokratie nun zur Abstimmung stellen will, sich beträchtlich von jenen unterscheiden, für die der Verein zuvor geworben und selbst Unterschriften gesammelt hat. Die Landesregierung bezweifelt, dass diese Überarbeitung sich noch im Rahmen des Erlaubten bewegt, und hat das Landesverfassungsgericht angerufen. Das muss nun entscheiden.

Die Initiatoren der Kampagne finden das empörend: Man sei bei der Überarbeitung des ursprünglichen Textes doch bloß den Vorschlägen von Verfassungsjuristen des Landes gefolgt, argumentieren sie – wie könne das verfassungswidrig sein? Aber das ist kein plausibler Einwand. Wenn das ursprüngliche Anliegen des Vereins tatsächlich komplett umgedeutet werden muss, um verfassungsrechtlichen Einwänden standzuhalten, dann war es von Anfang an verfehlt.

Eben sehr kompliziert, das Ganze. In der Materie, die wir Bürger aus Sicht des Vereins Mehr Demokratie nicht länger gewählten Abgeordneten überlassen sollten, verlieren selbst die Experten des Vereins offenbar gelegentlich den Überblick.