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Hafencity

Wie das tödliche Abenteuer der Ratte begann

 

Sie haben sich für Hamburg bislang nicht interessiert? Jetzt sollten Sie, denn es gibt die Kolumne „Hamburger Tatsachen“.

Nach dem schrecklichem Tod der Ratte Marco Polo zerrissen sich viele ihrer Artgenossen das Maul über so viel Leichtsinn.

„Wer ein bisschen Verstand hat, der lässt die Hafencity links liegen. Zu gefährlich, tödlich langweilig ist es da draußen!“, rief eine Ratte, die sich ihr Leben lang im Keller eines Hauses aufgehalten hatte. Sie war darüber fett und träge geworden.

„Das musste ja so kommen!“, zischte eine andere, die immer alles besser wusste und gerne die Nase über ihre Artgenossen rümpfte, ganz egal was sie taten.

„Wäre er doch geblieben, wo er zu Hause war. Da ging es ihm doch gut!“, sagte eine dritte Ratte. Sie war bekannt für ihr Mitgefühl und ihre Rührseligkeit. Der Anblick der kleinsten Grausamkeit brachte sie zum Weinen. Und an Grausamkeiten fehlt es im Leben einer Ratte gewiss nicht.

„Er war nie mit dem zufrieden, was er hatte, er wollte immer was Neues!“, flüsterte eine dritte und ließ dabei erkennen, dass sie doch ein wenig Verständnis hatte für den unruhigen Geist der Ratte Marco Polo.

Die Besserwisser, die Lästerer, die Spötter, die Mitfühlenden und Hartherzigen – sie hatten alle irgendwie Recht, nur in einem lagen sie ganz falsch. Marco Polo war alles andere als leichtsinnig. Was immer sie tat, sie hatte gute Gründe, es zu tun und sie bereitete sich darauf akribisch vor.

Das war auch im Falle ihrer Expeditionen in die Hafencity der Fall.

Marco Polo war am Isebek-Kanal zu Hause, dort also, wo es Menschen und Tieren blendend geht. Wie alle Ratten hatte auch Marco Polo die Gewohnheit, die Menschen genau zu beobachten. Bei ihren täglichen Spaziergängen entlang des Kanals bemerkte sie, dass sich Flugblätter häuften, auf denen neue schicke Häuser abgebildet waren.

Das Verlockende daran war, dass diese Häuser viel höher waren als jene am Isebek-Kanal. Mehr Stockwerke, mehr Menschen, mehr Menschen, mehr Futter, mehr Stockwerke, mehr Rohre, mehr Rohre, mehr Zugang zu Futter — so ungefähr verschalteten sich die Geistesblitze der Ratte und verschmolzen schließlich zu der Erkenntnis: Da muss ich hin!

Aber wie? Wo war dieses Viertel mit den tollen Häusern?

Marco Polo begann damit nach jenen Passanten in Eppendorf Ausschau zu halten, welche besagte Informationsblätter nicht wegwarfen, sondern in die Tasche steckten. Dann suchte er sich einen von ihnen aus und folgte ihm in der Hoffnung, dass er ihn in das neue Viertel bringen würde. Es dauerte lange bis er einen fand, der tatsächlich in die Hafencity fuhr. Er war ein etwa vierzigjähriger Mann, schlank, lässig gekleidet und durchtrainiert.

An einem warmen Frühlingsmorgen trat er aus seinem Haus, in seiner Schultertasche steckte das Flugblatt über die Hafencity. Der Mann stieg auf sein Fahrrad und radelte los. Marco Polo nahm die Verfolgung auf. Er hielt sich immer dicht an Mauern, an Rinnsteinen und Bordkanten, und wo es nicht Schützendes gab, da versuchte er den Schritt eines Hundes nachzuahmen, in der Hoffnung nicht aufzufallen. Der Mann brauste in einem Affentempo durch die Innenstadt, Marco Polo hatte größte Mühe ihm zu folgen. Glücklicherweise schaltete eine ganze Reihe von Ampeln auf Rot, sodass der Radfahrer anhalten und Marco Polo verschnaufen konnte.

Als er wirklich nicht mehr konnte, als er den Radfahrer davonsausen lassen musste, war er schon über die Landungsbrücken hinausgekommen. Keuchend lehnte Marco Polo sich an einen Rinnstein.

Seine Flanken schmerzten, sein Herz raste, seine Lungen brannten.

„Ich sterbe,“  dachte sie, „ich sterbe!“

Doch Marco Polo starb nicht. Sie rappelte sich auf und hob ihr Köpfchen über den Rinnstein. Da erschien vor ihren Augen, wie eine Fata Morgana, die Hafencity.

Wie hoch die Häuser doch waren?! Wie neu! Wie glatt und glitzernd!

Und zwischen ihnen regelrechte Schluchten,  schattig und dunkel waren sie wie gemacht für Ratten.

Und das Gebäude da, das größte von allen, umstellt von Kränen, fast gänzlich verglast, mit seltsam geschwungenem Dach – was mochte das bloß sein?

Marco Polo pfiff vor Freude und trippelte los. Hamburgs Oper sollte das erste Haus werden, das sie erkundete.