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Issing’s Baucherhöhung

 

Für die Händler am europäischen Geldmarkt ist es eine ausgemachte Sache: Die Europäische Zentralbank (EZB) wird am 1. Dezember das erste Mal seit über fünf Jahren mal wieder die Zinsen erhöhen. Die Analysten dagegen winden sich noch, kaum einer hatte für dieses Jahr den Schritt nach oben auf der Rechnung. Doch ich befürchte, es wird passieren. Wer in die Notenbankkreise hineinlauscht, erschrickt, ob der Debatte, die gerade heiß läuft. Sie kreist nicht um die Frage: Erhöhen oder nicht erhöhen, sondern ob es klüger ist, gleich um 50 Stellen zu erhöhen oder erst mal nur um 25 Stellen.

Daher meine Wette: Hauptszenario (50 Prozent Wahrscheinlichkeit) eine Zinserhöhung um 25 Stellen auf dann 2,25 Prozent. 30 Prozent Wahrscheinlichkeit für 50 Stellen und für unveränderte Leitzinsen 20 Prozent. Das ist die einzige Wette, bei der ich nicht traurig bin, wenn ich sie verliere, sprich, wenn es keine Zinserhöhung gibt. Der Wirtschaft Eurolands würden die niedrigen Notenbankzinsen noch eine Weile gut tun. Die Kapazitäten der Volkswirtschaften sind noch längst nicht annähernd ausgelastet, vor allem ist die Arbeitslosigkeit viel zu hoch. Dagegen ist von Inflationsgefahren weit und breit nichts zu sehen.

Rechnet man bei der Inflationsrate, die die EZB nahe bei, aber unter zwei Prozent halten möchte, die volatilen Energie- und Nahrungsmittelpreise heraus, so gelangt man zur Kernrate. Diese Kernrate gilt unter Volkswirten als die relevantere Inflationsrate. Denn wer kann etwas für die hohen Ölpreise? Die Notenbank kann sich nur darum kümmern, dass die hohen Ölpreise sich nicht in höheren Löhnen und Produktpreisen niederschlagen. Die Kernrate für Euroland liegt bei niedrigen 1,5 Prozent. Das ist erstaunlich. Aber schwache Gewerkschaften, schwaches Wirtschaftswachstum und hohe Arbeitslosigkeit führen dazu, dass die Arbeitnehmer keinen Lohnzuschlag aushandeln können, mit dem die ölbedingt steigenden Lebenshaltungskosten ausgeglichen werden könnten. Ohne steigende Löhne, auch keine Inflationsgefahr.

Warum wird die EZB die Zinsen dennoch erhöhen? Weil einigen EZB-Direktoren, allen voran dem Chefvolkswirt, Otmar Issing, das rekordniedrige Leitzins-Niveau von zwei Prozent noch nie gefallen hat. Issing hält es für beunruhigend niedrig – aus dem Bauch heraus. Deshalb dürften auch die professionellen EZB-Beobachter in der Masse falsch liegen. Denn sie versuchen die Zinsschritte mit irgendwelchen Formeln zu begründen. Issing braucht keine Formeln. Issing bestimmt die Debatten in der Europäischen Geldpolitik wie kein Zweiter – und versucht nun zum zweiten Mal ohne Formeln von den zwei Prozent weg zu kommen.

Das erste Mal begann er über spekulative Blasen zu philosophieren, die durch die niedrigen Notenbankzinsen stimuliert würden – am Immobilienmarkt, am Rentenmarkt. Das war im Sommer/Herbst 2004. Die theoretische Debatte, ob eine Notenbank Blasen, wenn sie solche ausmache, mit Zinserhöhungen bekämpfen darf, verlor er zwar. Aber der Boden war bereitet. Nur die grottenschlechten Wirtschaftszahlen zur Jahreswende 2004/2005 behüteten Euroland vor steigenden Notenbankzinsen.

Was tut Issing heute? Er lässt seine Volkswirte im jüngsten Monatsbericht (Seite 38 ff.) nachdenken, ob es klug ist, zu warten, bis man Zweitrundeneffekte sieht, oder ob man nicht vorher handeln sollte. Dabei wird einfach in Frage gestellt, ob die Kernrate tatsächlich geeignet ist, die wahre Inflation wiederzuspiegeln, oder ob es nicht viel eher so ist, dass die niedrige Kernrate mit Verzögerung der zur Zeit höheren Gesamtrate folgt?

Werden solche Fragen im Monatsbericht gestellt und macht EZB-Präsident Jean-Claude Trichet auf der jüngsten Pressekonferenz zugleich klar, was immer schon klar war, nämlich, dass die EZB jederzeit handeln kann, dann ist höchste Alarmbereitschaft angesagt. Denn im Gegensatz zum Jahreswechsel 2004/05 als die Blasendebatte tobte, sind die Wirtschaftsdaten diesmal gut, vielleicht sogar verdammt gut.