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Übertreiben Sie nicht, Herr Weber!

 

Lieber Herr Weber,

ich muss mich heute ausnahmsweise direkt an Sie wenden, in Ihrer Funktion als Bundesbankpräsident und als Mitglied des Rates der Europäischen Zentralbank. Denn ich befürchte, Sie berechnen eine zentrale Größe der Geldpolitik falsch: Das Produktionspotenzial von Euroland. Nach allem, was ich in letzter Zeit von Ihnen gehört und gelesen habe, beschleicht mich das fatale Gefühl, dass Sie das Potenzial viel kleiner machen als es in Wirklichkeit ist. Vor allem deshalb plagen Sie Inflationssorgen, vor allem deshalb votieren Sie für weitere Zinserhöhungen. Ich möchte Sie beruhigen. Richtig gerechnet, könnten Sie noch mindestens vier Jahre ruhig schlafen, könnten ein stärkeres Wachstum zulassen und dadurch mehr Arbeitsplätze entstehen lassen. Ich wünsche mir auch, dass Sie mehr auf die Tatsache abstellen, dass die Unterauslastung des Potenzials nach wie vor erheblich ist. Sie werden kaum so weit gehen zu sagen, dass die Inflationsrisiken aus diesem Grund sehr gering sind. Dennoch: So ist es.

Der Reihe nach: Das Produktionspotenzial ist ein zentrales, aber in der Öffentlichkeit kaum als solches wahrgenommenes Instrument im Analysekasten der Geldpolitiker. Je nach dem wie Sie und Ihre Kollegen im EZB-Rat die Wachstumsrate des Potenzials einschätzen, oder wie sich die Lücke entwickelt zwischen dem, was in der Volkswirtschaft produziert werden kann – also ihrem Potenzial – und dem, was tatsächlich produziert wird, werden Sie die Zinsen eher anheben oder senken und damit die Konjunktur abbremsen oder stimulieren. Sie analysieren natürlich auch eine Vielzahl anderer Indikatoren, etwa die Löhne und Gewinne, den Wechselkurs, die Preise für Rohstoffe und andere Importe, die Geldmenge und eine Reihe von Umfragen und Frühindikatoren – das Produktionspotenzial aber spielt stets die Schlüsselrolle.

Sie haben jüngst immer wieder betont, dass die Wirtschaft Eurolands zur Zeit etwa so rasch expandiert wie das Produktionspotenzial, zuletzt sogar rascher, und es daher angebracht sei, die Zinsen zu „normalisieren“, also weiter anzuheben. Dies ist nur auf den ersten Blick eine plausible Aussage, bei näherem Hinsehen führt sie aber in die Irre. Lassen Sie mich erklären.

Angenommen, in den vergangenen 5 ¼ Jahren, seit dem letzten zyklischen Höhepunkt, sei das Produktionspotenzial von Euroland mit einer Rate von jährlich 2¼ bis 2½ Prozent gewachsen, wie das die EZB anfangs erwartet hatte. Das reale Sozialprodukt ist dagegen in dieser Zeit nur um durchschnittlich 1,4 Prozent gestiegen. Setzen wir für beide Aggregate den Ausgangspunkt im ersten Quartal 2001 gleich 100, um die Reihen leicht vergleichbar zu machen, kommen wir auf folgendes Ergebnis: Beim Potenzial lagen wir im zweiten Quartal dieses Jahres bei 113,11, beim Sozialprodukt aber nur bei 107,52. Das ergibt eine „Kapazitätslücke“ von 4,9 Prozent (107,52 geteilt durch 113,11). Um soviel ist die Produktionslücke also größer als Anfang 2001. Sie hat sich im Verlauf dieses Jahres durch das höhere Wachstum etwas geschlossen, bleibt aber immer noch sehr groß. Anders ausgedrückt, die Ressourcen der Wirtschaft werden heute viel schlechter ausgelastet, oder genutzt, als Anfang 2001. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch damals keinesfalls Vollbeschäftigung herrschte und die Produktion noch Luft nach oben hatte, ohne dass es sofort zu einer Inflationsspirale hätte kommen müssen. Die Arbeitslosenquote betrug 7,8 Prozent, so wie heute, und die Verbraucherpreise übertrafen ihren Vorjahreswert um 2,0%. Von überhitzter Wirtschaft konnte auch Anfang 2001 keine Rede sein.

Im Klartext: die Produktionslücke hat sich im letzten halben Jahrzehnt dramatisch ausgeweitet. Wir verschwenden in großem Stil Ressourcen und geben uns mit einem Lebensstandard zufrieden, der weit unter den Möglichkeiten liegt. Ich gehe, wenn Sie mir den Gedankensprung erlauben, so weit zu sagen, dass wir im Grunde kein Rentenproblem, also kein Problem mit dem künftigen Lebensstandard der Rentner haben, sondern wir haben vielmehr Probleme mit dem Wachstum und der schlechten Ausnutzung des Potenzials. Das ist natürlich ein Vorwurf an die Wirtschaftspolitik.

Diese Aussagen gelten im Übrigen auch, wenn Sie, als konservativer Zentralbanker, annehmen, dass das Wachstum des Potentials wegen des schwachen Anstiegs des realen Sozialprodukts in den letzten Jahren bei nur 2% jährlich lag. Die Lücke wäre dann kleiner, wäre aber nach wie vor sehr groß. Wenn Euroland von nun an mit einer Rate von, sagen wir, 3 Prozent expandieren sollte, wird es zwischen drei und fünf Jahren dauern, ehe man in einen Bereich kommt, wo man sich ernsthaft Sorgen um die Inflation machen müsste. Die stets misstrauischen Investoren in festverzinslichen Wertpapieren scheinen ebenfalls dieser Meinung zu sein. Sie begnügen sich nämlich für die nächsten zehn Jahre mit einer nominalen Rendite von 3,85 Prozent.

Auch von anderer Seite wird signalisiert, dass die Kapazitätslücke groß und damit das Inflationsrisiko sehr gering sein muss – von den Löhnen. Seit Jahren geben sich die Arbeitnehmer Eurolands mit stagnierenden Reallöhnen zufrieden. Sie können sich nicht dagegen wehren. Der gesamte Zuwachs an Wertschöpfung, den es ja immerhin doch gibt, geht an die Unternehmen und Selbständigen. Die Ölpreisexplosion ist, anders als bei der ersten Ölkrise, ganz zu Lasten der Lohnempfänger gegangen. Sie haben keine Verhandlungsmacht und es ist auch nicht zu erkennen, dass sich das demnächst ändern könnte. Im Weltmaßstab existiert nach wie vor ein Überangebot an Arbeit.

Ich bin ein wenig abgeschweift. Ich wiederhole daher noch einmal mein Anliegen: Für die Geldpolitik ist entscheidend, wie groß die Outputlücke ist, vielleicht auch, aber weniger wichtig, wie rasch sie sich schließt. Es bringt wenig, wenn Produktionspotenzial und reales Sozialprodukt um jeweils 2% oder 2 ½% jährlich zunehmen. Dann steigt zwar der Wohlstand, an der Verschwendung der Ressourcen ändert sich aber nichts. Relativ gesehen bleibt die Lücke so groß wie zuvor und es drohen keine Inflationsgefahren. Im Übrigen ist ein weiteres Anheben der Zinsen gefährlich, weil es den Wechselkurs des Euro in die Höhe treibt, sollte es in den USA zu der vermuteten Zinswende kommen. Auch diese Wechselkursentwicklung würde restriktiv wirken und tendenziell die Outputlücke vergrößern. Das ganze sieht nach einem Overkill aus, der neben bei bemerkt verhindert, dass Euroland seinen Beitrag zum Abbau der weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte leistet. Dieser Beitrag besteht nämlich darin, dass die USA langsamer wachsen, vor allem beim Konsum, und dass Euroland rascher expandieren sollte. Das dürfte wieder das Hauptthema der IWF-Tagung in Singapur sein.

Herr Weber, übertreiben Sie die Inflationsrisiken nicht! Spielraum für eine Geldpolitik der ruhigen Hand ist allemal vorhanden.

In alter Verbundenheit,
Ihr Dieter Wermuth


Dieter Wermuth schreibt seit dem 1. Sept. als neuer Hirte im Weblog HERDENTRIEB.