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Totgesagte leben länger

 

Leser unseres Blogs sind meist sehr skeptisch, was die Fortdauer des amerikanischen Konsumbooms angeht. Viele meinen, dass die Verbraucher bis über alle Ohren verschuldet seien und es irgendwann einmal zu einem Knall kommen muss. Sie stehen damit nicht alleine. Ich dagegen bin hin und her gerissen und vermute, dass eine kommende Krise eher durch eine Umlenkung der Kapitalströme und eine drastische Korrektur der Wechselkurse charakterisiert sein wird als durch einen Einbruch der Konsumnachfrage in Amerika.

Die Frage, die alle für entscheidend halten, die sich Sorgen um die Stabilität des Finanzsystems der Welt machen, ist die nach der tatsächlichen finanziellen Lage der amerikanischen Haushalte. Wenn sie so schlecht ist wie manchmal befürchtet, könnten fallende Immobilienpreise und die seit Mitte 2004 deutlich gestiegene Zinslast zu einem Einbruch der Konsumnachfrage führen, damit zu deutlich schwächerem Wachstum und damit wiederum zu einer Abkühlung der Weltwirtschaft. Fallende Rohstoffpreise wären dann ebenso programmiert wie fallende Zinsen. Schließlich hat Amerika immer noch einen Anteil von einem Viertel am Welt-BIP, wenn man mit tatsächlichen Devisenkursen rechnet, und von etwa 20 Prozent auf der Basis der Kaufkraftparitäten. Das Land ist der mit Abstand größte Importeur.

Es ist wohlbekannt, dass die Sparquote seit Jahren bei Null liegt, dass die steigenden Hauspreise und die niedrigen Zinsen dazu genutzt worden sind, die Hypothekenlast zu erhöhen und das Geld für SUVs, Reisen, oder Ausflüge in die Shopping Malls zu nutzen, und dass die Verschuldung der Haushalte ein Rekordniveau erreicht hat. Wenn man sich die Zahlen ansieht, die im jüngsten Global Financial Stability Report des Internationalen Währungsfonds oder im OECD Economic Outlook veröffentlicht wurden, ist die Lage eigentlich nicht so bedrohlich. Das erklärt vielleicht, weshalb sich die Ausländer mehr Sorgen um die amerikanische Wirtschaft machen als die Amerikaner selbst. Verstehen wir im Grunde nicht, wie die Amerikaner ticken? Hier sind einige Zahlen aus den beiden Publikationen (s. S. 100 bis 102 des IMF-Berichts und Annex-Tabellen 23, 24 und 58 im OECD-Bericht), die man kennen sollte, wenn man einschätzen will, wie ernst die Lage denn nun wirklich ist:

1.) Zunächst ist klarzustellen, dass das Netto-Vermögen der amerikanischen Verbraucher, bewertet zu Marktpreisen, 580 Prozent ihres verfügbaren Einkommens ausmacht; dieser Wert von Ende 2005 liegt geringfügig unter dem des Jahres 1999, dem ersten Jahr in der IMF-Tabelle, aber deutlich über dem von 2002 (500,0 Prozent), als der Aktienmarkt den niedrigsten Stand in diesem Zyklus erreicht hatte. Zum Vergleich: Ende 2004 betrug das Nettovermögen in Deutschland und Japan 572 Prozent und 725 Prozent des jeweiligen verfügbaren Einkommens. So gesehen, spielen die US-Verbraucher in derselben Liga wie die deutschen und die japanischen.

2.) Das Netto-Vermögen der amerikanischen Haushalte lag Ende 1995 bei 81,5% des
Bruttovermögens, was deutlich weniger war als die 86,1% von 1999; das Verhältnis Schulden zu Bruttovermögen ist also stetig gestiegen; die vergleichbaren Zahlen für Europa und Japan lauten 84,2% und 84,6% (2004). Auch hier gilt, dass die USA zwar schwächer dastehen, aber nicht klar ist, ob es sich um eine qualitativ andere Größenordnung als in anderen Ländern handelt.

3.) Die gesamten Verbindlichkeiten in Prozent des verfügbaren Einkommens sind laut OECD von 1994 bis 2005 von 91,6 auf 131,8 Prozent gestiegen, deutlich stärker als in Deutschland (93,0 auf 108,2 Prozent im Jahr 2004) oder Japan (124,6 auf 131,8 Prozent).

4.) Trotzdem hat der Anteil des Schuldendiensts am verfügbaren Einkommen von 1999 bis 2005 nur von 12,3% auf 13,7% zugenommen; vergleichbare Zahlen für Deutschland und Japan gibt es offenbar nicht. Dass der Anstieg so gering ausgefallen ist, spiegelt vor allem den Rückgang der Zinsen wider – wenn diese ernsthaft anziehen, würde der Schuldendienst einen noch größeren Anteil der Einkommen beanspruchen. Ob es dann gefährlich werden kann, steht auf einem anderen Blatt. Solange es einfach ist, einen Job zu finden, braucht man allerdings keine Bedenken zu haben – bisher ist das noch der Fall. Auch bei den Zinsen dürften wir in der Nähe der Höchststände sein, so dass von daher keine zusätzlichen Risiken zu erwarten sind. Die langfristigen Zinsen sinken bekanntlich seit einigen Monaten wieder.

5.) Klar ist, dass in den USA viel weniger auf konventionelle Art gespart wird als in anderen großen Industrieländern. Die volkswirtschaftliche Sparquote ist laut OECD seit 1987 von 15,7 auf 13,0 Prozent gefallen und liegt damit erheblich unter der deutschen (21,1 Prozent) und erst recht der japanischen (26,4 Prozent). Bei der Berechnung dieser Ziffern werden die positiven und negativen Sparbeiträge des Staates und des Unternehmenssektors miteinbezogen. Immerhin: gespart wird auch in den USA, und erst recht wird kräftig investiert, denn die niedrige inländische Ersparnis wird ergänzt durch Kapitalimporte, die zur Zeit 6,5 Prozent des nominalen BIP ausmachen – so dass unter dem Strich relativ zum BIP sogar mehr investiert wird als in Deutschland und Japan, den Weltmeistern im Konsumverzicht. Was schadet es, wenn das Ausland für Amerika mitspart, wenn auf die Verbindlichkeiten, die daraus entstehen, 3 bis 5 Prozent Zinsen zu zahlen sind, während das nominale BIP jährlich um 6 bis 7 Prozent zunimmt? Solange die Konjunktur läuft, ist das ein wunderbares Geschäft.

6.) Schließlich zu den Netto-Sparquoten der privaten Haushalte: Die OECD schätzt die amerikanische für das Jahr 2006 auf -0,5 Prozent, verglichen mit einer japanischen von 2,4 und einer deutschen von 10,5 Prozent. Das sieht in der Tat nicht sehr vertauenserweckend aus.

Um es auf den Punkt zu bringen: Die Amerikaner verlassen sich darauf, dass die steigenden Preise ihrer Aktien und Häuser das eigentliche Sparen überflüssig machen. Bei Aktien ist das, wie zuzugeben ist, eine legitime Strategie, denn die Unternehmen schütten ja nur einen Bruchteil ihrer Nettogewinne in Form von Dividenden aus; den Rest investieren sie im eigenen Unternehmen und steigern so dessen inneren Wert. Bei Immobilien ist das anders: Zwar wurden in den vergangenen fünfzehn Jahren, also seit dem Ende der Rezession vom Beginn der neunziger Jahre im Durchschnitt jährlich 7,2 Prozent mehr Bauvorhaben in Angriff genommen als im Jahr zuvor, der Bestand an Häusern hat sich aber um kaum mehr als 1,5 Prozent jährlich erhöht (weil ja immer viel mehr Häuser schon da sind als jährlich hinzukommen). Der Vermögenszuwachs ist also vor allem der Immobilieninflation geschuldet und steht damit auf wackligem Fundament. Da so lange so viel gebaut wurde und die Zinsen am kurzen Ende zwei Jahre lang gestiegen sind, hat der Markt zu guter Letzt schließlich gedreht. Die Hauspreise fallen neuerdings, wodurch es zu Vermögenseinbußen und einem Stillstand der einstigen Geldvermehrungsmaschine kommt. Bisher sieht es aber noch nicht danach aus, als ob die Verbraucher sonderlich davon beeindruckt wären, zumal sie durch die niedrigeren Benzinpreise, das vorläufige Ende der geldpolitischen Restriktionspolitik und die fallenden Hypothekenzinsen zuversichtlicher geworden sind. Auch der Wert ihrer Aktienportefeuilles steigt seit einiger Zeit wieder.

Mit anderen Worten, es könnte sich wieder einmal herausstellen, dass Totgesagte länger leben. Bisher war es immer falsch, auf ein Ende des amerikanischen Konsumbooms zu setzen. Die Verbraucher haben ja zudem in der Fed einen starken Verbündeten, der darauf achtet, dass sie nicht aus lauter Verzweiflung aufhören Geld auszugeben. Das wird auch so bleiben, weil es nicht danach aussieht, dass die Inflation bei den Verbraucherpreisen aus dem Ruder laufen könnte.

Insgesamt sind die Schlussfolgerungen also positiv, jedenfalls für die nähere Zukunft. Ein Ungleichgewicht allerdings wird weiter zunehmen – das Defizit in der amerikanischen Leistungsbilanz, also die Abhängigkeit von Kapitalimporten. Wie lange werden Ausländer noch bereit sein, schlechtverzinsliche Dollars zu akkumulieren und den Anteil des Dollarrisikos in ihren Portefeuilles weiter zu steigern? Eine größere Korrektur der Wechselkurse wird immer wahrscheinlicher.