Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Reicher Mann, armer Mann

 

Am vergangenen Freitag gab es im Economist eine Reihe von Artikeln zum Thema Einkommensverteilung: „Rich man, poor man – The winners and losers from globalisation“. Nachdem nun seit vielen Jahren die Gewinne und Vorstandsgehälter viel stärker gestiegen sind als die Einkommen der Arbeitnehmer, beginnt man sich offenbar auch beim führenden marktliberalen Wirtschaftsmagazin zu fragen, was denn los sei, ob das so weitergehen wird und ob man sich nicht auf soziale Unruhen oder zumindest auf verstärkten Protektionismus einstellen muss.

Bisher hat sich unser Wohlstand durch die immer intensivere nationale und internationale Arbeitsteilung nicht nur ständig erhöht, er hat auch alle Bevölkerungsschichten erfasst, einschließlich derer, die auf staatliche Hilfen und Renten angewiesen sind. Die Einkommen der Kapitalbesitzer und der Anbieter von Arbeit hatten über die Konjunkturzyklen hinweg meist etwa in gleichem Maße zugenommen. In den vergangenen vier Jahren, in denen das reale Sozialprodukt der Welt im Durchschnitt um 4,9 Prozent gestiegen ist, so stark wie seit Anfang der siebziger Jahre nicht mehr, ist die Einkommensverteilung vollkommen aus dem Ruder gelaufen. Die Wirtschaft brummt, aber die Früchte sind bislang allein beim Faktor Kapital angefallen.

Sehen wir uns die deutschen Zahlen an. Die gesamtwirtschaftliche Arbeitsproduktivität auf Stundenbasis nimmt im Grunde schon seit Anfang 1994 rascher zu als die realen Stundenlöhne. Wie den ersten beiden Schaubildern zu entnehmen ist, hatten sich bis dahin die beiden Kennziffern etwa im Gleichschritt bewegt – in den Aufschwungphasen anfangs der siebziger, um die Mitte der achtziger und anfangs der neunziger Jahre hatten die Löhne zeitweise stärker zugelegt als die Produktivität. Das gibt es nicht mehr – seit 2004 sinken die Reallöhne sogar absolut, so dass die gesamten Produktivitätsgewinne an die Kapitaleigner gehen. Das ist eins von zahlreichen Anzeichen dafür, dass sich die Arbeitnehmer angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in einer sehr schwachen Verhandlungsposition befinden.

Entwicklung von Reallohn und Produktivität in DE

Die dritte Graphik zeigt, dass sich der Anteil der Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen am Volkseinkommen seit dem Frühjahr 2003 von 28 ½ Prozent auf zuletzt über 34 Prozent erhöht hat. Absolut gerechnet ist diese Art von Einkommen vom ersten Halbjahr 2003 bis zum dritten Quartal 2006 (neuere Zahlen gibt es nicht) um durchschnittlich 8,6 Prozent jährlich gestiegen, oder um 6,7 Prozent real. Das sieht auf den ersten Blick nicht sehr eindrucksvoll aus, ist es aber, denn ein wesentlicher Teil dieses Aggregats besteht aus Mieten und Zinsen. Vor allem die Mieten haben sich seit Jahren nicht erhöht, während die Zinsen bis vor kurzem eher gesunken als gestiegen sind, so dass die eigentlichen Gewinne real zweistellig gestiegen sein müssen.

Anteil der UuV Einkommen am Volkseinkommen

Andere Zahlen des Statistischen Bundesamtes Destatis bestätigen das. Von 2005 gegenüber 2003 haben sich die Gewinne der Kapitalgesellschaften nominal um jährlich 13,3 Prozent verbessert – 2006 sind es vermutlich noch einmal deutlich mehr gewesen. Auch über längere Zeiträume gerechnet, etwa seit 1999, haben sich die Gewinne sehr erfreulich entwickelt: Ihre Zuwachsrate lag im jährlichen Durchschnitt um nicht weniger als 4½ Prozentpunkte über der des nominalen Sozialprodukts, um mal einen anderen Vergleichsmaßstab zu benutzen.

In den anderen Ländern Eurolands sind die Gewinn- und Arbeitseinkommen nicht so krass auseinandergelaufen, weil die Arbeitnehmer dort, vielleicht fälschlicherweise, weniger Angst um ihre Jobs hatten als die deutschen Kollegen und höhere Reallöhne durchsetzen konnten . Ein Grund war vermutlich, dass die Immobilienmärkte bei ihnen angesichts der ungewohnt niedrigen Hypothekenzinsen im Gefolge der Euro-Einführung viel besser liefen als hierzulande (wo die langen Realzinsen schon immer ziemlich niedrig waren). Trotzdem, der Tendenz nach sind auch im übrigen Europa die Gewinne seit langem viel besser gelaufen als die Löhne. Durch den neuen Globalisierungsschub der vergangenen vier Jahre hat sich das noch einmal verstärkt.

Was ist hier los? Mindestens vier parallele Entwicklungen haben die Wettbewerbsposition der deutschen und europäischen Unternehmen und der Arbeitnehmer verschlechtert:

  • – die immer niedrigeren Transportkosten sowohl bei der Luftfracht als auch im Seeverkehr.
  • – die ständig verbesserte Information über andere Märkte und Anbieter über das Internet.
  • – die Liberalisierung früherer kommunistischer oder planwirtschaftlich orientierter Länder wie China, Russland, Polen, Vietnam oder Indien, ihr Eintritt in die internationale Arbeitsteilung sowohl auf der Angebotsseite als auch als Empfänger von Direktinvestitionen.
  • – die kräftige Aufwertung des Euro seit 2002, die sich angesichts der amerikanischen Sparlücke vermutlich sogar noch eine Weile fortsetzen wird.

Auf einmal konkurrieren unsere Leute mit Arbeitnehmern auf der ganzen Welt – und die sind meist mit sehr niedrigen Löhnen zufrieden, weil es im Vergleich zur Nachfrage so viele von ihnen gibt. Nach wie vor drängen Hunderte von Millionen unterbeschäftigte Arbeiter aus der Landwirtschaft oder vormals staatlichen Betrieben in die Privatwirtschaft.

Im großen Ganzen schlagen sich die Unternehmen in dieser ‚brave new world‘ sehr beachtlich, wie die Gewinnentwicklung und die immer neuen Außenhandelsrekorde zeigen. Sie haben die richtigen Produkte und verlangen offenbar auch keine überhöhten Preise, aber sie nutzen die für sie angenehme Situation auf dem Weltarbeitsmarkt, um die Löhne zu drücken. Vor allem die weniger qualifizierten Arbeiter, deren Jobs nicht auf irgendeine Weise vor internationalem Wettbewerb geschützt sind, haben große Probleme, zunehmend aber auch viele hochqualifizierte Angestellte oder Selbständige, die sich nicht anpassen können oder wollen.

Kein Wunder, dass die Globalisierung einen schlechten Ruf hat. Grundsätzlich ist sie eine tolle Sache, weil der Wohlstand insgesamt noch nie so rasch und so anhaltend zugenommen hat. Die Verteilung ist das Problem. Der Ruf nach Protektionismus trifft glücklicherweise bislang auf wenig Resonanz, wird aber immer lauter. Protektionismus hilft jedoch noch nicht einmal kurzfristig, weil das Ausland sofort Gegenmaßnahmen ergreifen würde, wodurch die eigenen Ausfuhren erschwert oder sogar unmöglich gemacht würden. Das kostet Jobs.

Was einzelne Arbeiter an Jobsicherheit gewännen, verlören sie zudem als Verbraucher, weil alles teurer würde – durch den Rückgang der Importe gäbe es weniger Wettbewerb, so dass die (inländischen) Anbieter bei den Preisen leichtes Spiel hätten. Am wichtigsten ist aber auf die längere Sicht, dass die Länder, die sich weiterhin dem Wettbewerb stellen, zu Innovationen gezwungen sind und Produkte entwickeln, die denen der geschützten einheimischen Betriebe überlegen sein dürften. Das kostet ebenfalls Jobs. Letztlich macht es keinen Sinn, der gut geölten Wachstumsmaschine „Weltwirtschaft“ Sand ins Getriebe zu streuen.

Was aber sonst? Eine naheliegende Strategie ist, den Gewinnern der Globalisierung einen größeren Teil ihrer Einkommen als bisher wegzusteuern und an die Verlierer zu verteilen. Das wird beispielsweise mit der neuen „Reichensteuer“ versucht, es wird aber nicht viel bringen, da der Umverteilungsstaat bereits an seine Grenzen stößt, was sich in den unterschiedlichsten Steuervermeidungsstrategien manifestiert.

Solange es selbst innerhalb der Europäische Union Steuerparadiese gibt und die nationalen Steuerbehörden weder eng kooperieren noch ihre Systeme harmonisieren, noch die grenzüberschreitenden Zahlungsströme komplett erfassen, solange sind der Kreativität der Besserverdienenden und ihrer Steuerberater keine Grenzen gesetzt. Hohe Steuern in Gesellschaften mit unterentwickelter Solidarität der Bürger führen zu Steuerflucht und im übrigen auch zu einer Fehlallokation von Ressourcen, also einem geringeren Wachstum. Gegen die zunehmende Ungleichheit der Einkommen lässt sich de facto nicht viel machen, es sei denn, man will die Gans schlachten, die die goldenen Eier legt.

Die französische, vielleicht auch die italienische Lösung heißt: Der Euro muss abwerten und die EZB ist daher an die Kandare zu nehmen. Abgesehen davon, dass dadurch die Realzinsen stiegen und sich das Wachstum abschwächte, der Euro seinen neuen (profitablen) Status als zweite Reservewährung verlöre, drohte die Währungsunion auseinander zubrechen, weil Deutschland nicht mitspielen würde. Skaleneffekte und andere Vorteile, an die wir uns gewöhnt haben, gingen verloren. Grundsätzlich würde ein schwächerer Euro schon helfen, da er wie eine allgemeine Lohnsenkung wirkt (uns dadurch im übrigen auch ärmer macht), aber man darf der EZB schon das Augenmaß zutrauen, dass sie die europäische Wirtschaft nicht durch einen superfesten Euro an die Wand fahren lässt. Ich hätte ja auch gern eine insgesamt etwas expansivere Geldpolitik, wenn man aber mit dem Knüppel auf die Währungshüter eindrischt, ist keinem geholfen.

Die einzig richtige Antwort auf die Globalisierung ist offensiver Natur. Da kommt dem Staat durchaus eine zentrale Rolle zu. Bei den Rezepten handelt sich um Binsenweisheiten: vor allem geht es um eine gute Ausbildung für alle, eine lebenslange Weiterbildung, um die Förderung der geographischen und beruflichen Mobilität, die Erleichterung von Unternehmensgründungen und Einwanderung, eine belastbare Infrastruktur, Mut zu mehr Wettbewerb, Abbau von bestandserhaltenden Subventionen und eine wachstumsorientierte Verwendung der staatlichen Ausgaben. Die skandinavischen Länder machen uns vor, wie es gehen kann. Sie schaffen es, auch ohne dass die Menschen 60 Stunden in der Woche arbeiten müssen.