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Eher Deflation als Stagflation

 

Stagflation ist das Modethema dieser Tage. Weltweit steigt die Inflation. Bei den Verbraucherpreisen hat sie sich binnen Jahresfrist auf fast 4 Prozent verdoppelt, und die Explosion der Rohstoffpreise könnte ein Zeichen dafür sein, dass die Flucht in Sachwerte, also die Flucht vor der Geldentwertung, in vollem Gange ist. Gleichzeitig gibt es immer mehr Anzeichen, dass sich das Wirtschaftswachstum abschwächt, global von 5 Prozent im Jahr 2006 auf knapp 4 Prozent in diesem Jahr. Steigende Inflation und stagnierender Output ergeben Stagflation.

Das ist das Schlimmste, was Notenbanken passieren kann: Weil die Inflation so hoch ist, können sie sich nicht leisten, die Nachfrage und damit das Wachstum durch niedrigere Zinsen zu stimulieren. Konflikte mit den jeweiligen Regierungen sind vorprogrammiert. Tun sie es dennoch, könnten die Inflationserwartungen nachhaltig anziehen, was die Prämien für das gestiegene Inflationsrisiko und damit die Anleiherenditen in die Höhe treibt. Das ist wiederum schlecht für das Wachstum. Die Aktienmärkte leiden ebenfalls, weil sie einerseits mit den (dann fallenden) Rentenkursen korreliert sind, und weil sich andererseits die Gewinnaussichten durch das schwächere Wachstum eintrüben. Das kann nicht gut für die Investitionstätigkeit sein.

Erhöhen die Notenbanken dagegen die Zinsen, verliert die Wirtschaft noch mehr an Dynamik. Sie könnte in eine Rezession abgleiten, was besonders dann wehtut, wenn die Arbeitslosigkeit bereits hoch ist. Folgt die Stagflation auf eine längere Periode robusten Wachstums, haben die Arbeitnehmer noch eine gute Verhandlungsposition und können Lohnerhöhungen durchsetzen, die über das Produkt von unvermeidlicher Inflation und Produktivitätswachstum hinausgehen und damit die Inflation weiter antreiben. Das provoziert weitere Zinserhöhungen – so geschehen in den siebziger Jahren.

Löhne, Inflation und Notenbankzins in Deutschland seit 1960

Wie sieht es heute aus? Für die Weltwirtschaft insgesamt ist trotz der Probleme in den USA keine echte Stagnation in Sicht, weil die Dynamik der Schwellenländer ungebrochen ist. Das ist meiner Meinung nach auch der wichtigste Grund für die Explosion der Rohstoffpreise. Große Länder wie China, Indien, Brasilien und Russland haben einen immensen Nachholbedarf an Infrastruktur, an Autos, anderen langlebigen Konsumgütern und Wohnungen, allesamt rohstoff- und energieintensive Produkte, und sie haben neuerdings die finanziellen Mittel, sich diese Bedürfnisse zu erfüllen. Die starke Nachfrage nach Rohstoffen trifft auf ein ziemlich unelastisches Angebot, weil die Produzenten bislang nicht davon ausgehen, dass diese Nachfragedynamik anhalten wird. Gibt es nicht so etwas wie einen Schweinezyklus, und folgt auf einen Preisboom nicht stets ein Einbruch der Preise? Warum viel Geld ausgeben für neue Produktionsfazilitäten, wenn die Gewinne auch ohne mehr Produktion kräftig steigen?

Erölpreis in Dollar und Euro seit 1980

Rohstoffpreise ohne Erdöl seit 1980

Aber was hat eigentlich eine Erhöhung der Rohstoffpreise mit einem allgemeinen Anziehen der Inflation zu tun? Ändern sich die relativen Preise nicht ständig, ohne dass wir uns Sorgen um die Inflation machen müssten? Telefonate und Fernreisen werden nicht nur relativ sondern auch absolut immer billiger, Heizung und medizinische Dienstleistungen immer teurer, so what? Wirklich ernst wird es nur, wenn das Preisniveau insgesamt immer rascher steigt.

Gibt es Gründe, das zu vermuten? Die gibt es in der Tat. Da das Weltsozialprodukt in den vergangenen fünf Jahren laut Internationalem Währungsfonds um etwa eineinhalb Prozentpunkte jährlich rascher zugenommen hat als im langfristigen Trend, sind die Kapazitätsreserven offenbar näher gerückt. Das bedeutet, dass es leichter fällt, die Preise zu erhöhen. Es mangelt zudem auch nicht an Liquidität – sie wurde vor allem durch die Interventionen zugunsten des Dollar geschaffen. Die Weltwirtschaft ist überschwemmt mit Dollars. Möglicherweise ist inzwischen auch die Reservearmee an fleißigen und billigen Arbeitskräften geschrumpft, die bislang nicht nur die Lohninflation in den Schwellenländern in Schach gehalten hat, sondern auch im Rest der Welt. Jedenfalls ist die Inflationsrate im BRIC-Bereich binnen Jahresfrist von 4,0 Prozent auf 7,0 Prozent gestiegen. Da zudem die Währungen dieser Länder gegenüber dem Dollar in den vergangenen zwölf Monaten um etwa 10 Prozent aufgewertet haben, exportieren diese Schwellenländer neuerdings nicht mehr Deflation, sondern Inflation. Es sieht also ziemlich ernst aus.

Trotzdem, wenn man ein Zwischenresumé ziehen möchte, würde man sagen, dass sich die Inflation in den Schwellenländern eher normalisiert hat und keineswegs dabei ist, außer Rand und Band zu geraten. Es ist nicht ungewöhnlich, dass die Inflation in armen, aber rasch wachsenden Volkswirtschaften rascher zunimmt als in kapitalreichen Ländern. Eine Differenz von drei oder vier Prozentpunkten dürfte normal sein. Das reflektiert das Phänomen, dass die Produktivität in der Industrie und in der Landwirtschaft durch die Intensivierung des Kapitaleinsatzes im Verlauf des Aufholprozesses sehr rasch zunimmt. Die Löhne in diesen Sektoren steigen entsprechend kräftig, wodurch die allgemeine Lohninflation (also auch die in den Dienstleistungsbereichen) sowie das Preisniveau insgesamt in die Höhe getrieben werden. Es handelt sich einfach um eine Angleichung der internationalen Preisniveaus. Ohne höhere Inflation geht es nicht.

Nicht zu vergessen: Die Hausse der Rohstoffpreise wird auf Dauer das Wirtschaftswachstum der Welt vermindern, weil der Kaufkraftverlust in den rohstoffimportierenden Ländern der OECD, aber auch in China und Indien größer ist als die sogenannte Absorptionsfähigkeit der Rohstoffexporteure, also der OPEC, Russlands, Australiens und Brasiliens. Die Preishausse entwickelt sich immer mehr zu einem Nachfrageschock für die Weltwirtschaft und kann daher nicht endlos weitergehen. Am Ende werden dadurch auch die Rohstoffpreise wieder fallen, vermutlich sogar sehr stark.

Dann gibt es außerdem noch einige andere Asset Price Bubbles, die gerade platzen oder die darauf warten zu platzen. Dazu gehören die Immobilienblasen in den USA, in Großbritannien und Spanien, in China und Russland, sowie die überteuerten Aktienmärkte in China, Indien, in der Ukraine, vielleicht sogar immer noch in den USA. Wenn Blasen platzen, stellt sich stets heraus, dass sie zuvor zu einem wesentlichen Teil durch Schulden finanziert worden waren. Banken, Haushalte, institutionelle Anleger und andere Unternehmen sehen auf einmal, dass sie überschuldet sind. Sie sind dann gezwungen, ihre Ausgaben zurückzufahren. Grundsätzlich führen Einbrüche bei Immobilien und Aktienkursen zu einem Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Sie wirken deflationär.

Ein echtes Inflationsrisiko gäbe es nur unter zwei Voraussetzungen: Erstens müssten die Notenbanken in Europa, Japan und in den Schwellenländern aus Sorge um Wachstum und Beschäftigung trotz der anziehenden Inflation eine deutlich expansivere Politik verfolgen. Danach sieht es nicht aus. Zweitens müssten die Arbeitnehmer in der Lage sein, die Kaufkraftverluste, die sie durch die steigenden Energiepreise erleiden, durch entsprechend höhere Lohnabschlüsse auszugleichen. Auch danach sieht es überhaupt nicht aus. Aus beiden Gründen ist die Situation fundamental anders als in den siebziger und frühen achtziger Jahren. Es will sich einfach keine Inflationsmentalität einstellen. Daher ist auch Stagflation eher unwahrscheinlich.

Und wie sieht es bei uns aus? Der starke Euro hat massiv preisdämpfende Effekte. Er wirkt wie eine Zinserhöhung. Die Pressekonferenz von Herrn Trichet am Donnerstag enthielt keine Andeutung, dass demnächst die Zinsen gesenkt werden könnten, trotz der etwas eingetrübten Wachstumsaussichten. Der Euro dürfte daher fest bleiben. Das hat den Nebeneffekt, dass die Arbeitnehmer kaum eine Chance haben, die Einkommensverteilung wieder einmal zu ihren Gunsten zu verändern. Die Stundenlöhne steigen laut EZB zur Zeit mit einer Rate von 2 1/2 Prozent (ggVj), also deutlich langsamer als die Preise, die zur Zeit um 3,2 Prozent über ihrem Vorjahresniveau liegen. Sie wirken damit ebenfalls preisdämpfend. Und wie hoch sind die Lohnsteigerungen in Deutschland? Im Anhang des jüngsten Monatsberichts der Bundesbank findet sich auf Seite 67 eine Tabelle, nach der die gesamtwirtschaftlichen tariflichen Stundenlöhne im Dezember nur um 1,5 Prozent höher waren als ein Jahr zuvor. Keine Inflation ohne Lohninflation! Deflation ist das passendere Wort für die Situation in Deutschland.

Die EZB erwartet in diesem Jahr beim realen Inlandsprodukt eine Zuwachsrate von 1,7 Prozent, was angesichts des sogenannten Potenzialwachstums von 2 1/4 Prozent nichts anderes bedeutet, als dass die Kapazitätsauslastung wieder zurückgeht. Zwar ist ein Notenbankzins von 4 Prozent neutral, aber nur in dem Sinne, dass eine Normalauslastung der Kapazitäten vorliegt. Das ist aber immer weniger der Fall. Im vierten Quartal stieg das reale BIP von Euroland beispielsweise nur noch mit einer Jahresrate von 1,5 Prozent. Die Geldpolitik ist also restriktiv, und sie wird ständig restriktiver.

Stagflation ist keine echte Gefahr und als Begriff völlig unpassend für das, was sich im Euroland tatsächlich abspielt.