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Sinn bleibt dabei – Das Problem seien die Löhne

 

Ich finde es ziemlich ärgerlich, wie Hans-Werner Sinn am Ende einer krausen Analyse, gespickt mit falschen Zahlen und Behauptungen, in einem Beitrag für die Wirtschaftswoche zu dem Schluss kommt, dass wir zwar eine falsche Wirtschaftsstruktur haben, dass die aber auf dem Wege der Besserung sei, vorausgesetzt die Agenda 2010 wird nicht ausgehöhlt, zum Beispiel durch die Einführung von Mindestlöhnen. Deutschland leidet strukturell an einer zu schwachen Inlandsnachfrage: Das kann man so sehen. Daraus ergibt sich aber nicht zwangsläufig Sinns Schlussfolgerung: „Die Agenda wird helfen, den Binnensektor weiter zu entwickeln und die verzerrten Wirtschaftsstrukturen … allmählich wieder ins Lot zu bringen.“ Das Grundübel sei die nivellierende Lohnpolitik der Vergangenheit, durch die die „arbeitsintensiven Binnensektoren vernichtet“ worden seien.

Nun erleben wir seit 2006 einen kräftigen Anstieg der Beschäftigung, der auch damit zu tun haben dürfte, dass der Druck auf die Minderqualifizierten, eine Arbeit, irgendeine Arbeit, anzunehmen stark zugenommen hat. Hartz IV trat 2005 in Kraft. Die Anzahl der Erwerbstätigen liegt auch nach dem Rückgang, der im November 2008 begann, noch um 3,4% über dem Stand von 2005, obwohl sich das reale Bruttoinlandsprodukt seitdem per Saldo nicht verändert hat. Deutlich mehr Leute sind also in Arbeit gekommen, aber sie produzieren nicht mehr als damals. Sollen wir uns darüber freuen? Freut Sinn sich darüber, dass wir die Arbeit besser verteilt haben?

Er beklagt vor allem, dass unsere Wirtschaft zu langsam wächst – nur die Italiener seien in der EU noch lahmer. Und wie kann das geändert werden? Irgendwie hat er folgendes Modell im Kopf: Das Lohnniveau ist zu hoch und die Lohnspreizung ist zudem zu gering – die hochqualifizierten Leute verdienen zu wenig im Vergleich zu den gering Qualifizierten. Das treibt die arbeitsintensive Produktion ins billigere Ausland, dort wird kräftig investiert, zulasten von Investitionen im Inland. Deswegen wiederum ist das BIP-Wachstum hierzulande so mickrig. Senkt man die Löhne und zwingt darüber hinaus die niedrig Qualifizierten in schlechtbezahlte Arbeit, wird auch wieder mehr investiert, wodurch sich dann das Wachstum beschleunigt. Ich denke, ich tue Sinn nicht Unrecht mit dieser Kurzfassung seiner Botschaft.

In der Wachstumstheorie gibt es allerdings nichts, was einer solchen Kausalkette auch nur annähernd entspräche. Herr Sinn ist mit seiner Sichtweise ziemlich allein auf weiter Flur. Er mag ja recht haben, aber es ist schon verwunderlich, dass weder in den gängigen Lehrbüchern noch in den führenden wissenschaftlichen Zeitschriften beim Thema Wirtschaftswachstum so argumentiert wird wie er das tut.

Wachstum kann nach allgemeinem Verständnis dadurch beschleunigt werden, dass sich 1. die Qualifikation der Erwerbstätigen verbessert, so dass sie lernen, pro Stunde Arbeit mehr zu produzieren, dass 2. der Konsum zugunsten des Einsatzes von Kapitalgütern zurückgedrängt wird, zumindest wenn Vollbeschäftigungen herrscht, und dass es 3. zu Innovationen kommt, dass die Volkswirtschaft also einen größeren Teil ihrer Ressourcen für Forschung und Entwicklung einsetzt. An diesen Stellschrauben muss gedreht werden, wenn sich beim Wachstum was tun soll. Bei Sinn kommt all das nicht vor. Lohnsenkung und eine ungleichere Einkommensverteilung sind für ihn die Zaubermittel! Hat er schon mal davon gehört, dass Löhne nicht nur Kosten verursachen, sondern auch unabdingbar sind, wenn man seine Produkte verkaufen will? Wer Wachstum will, will letztlich die Einkommen steigern, denn wie sonst würde es bei den Menschen ankommen?

Wachstum kann auch dadurch zustande kommen, dass die Bevölkerung wächst und mehr Leute in den Produktionsprozess eingebunden werden – aber im Grunde kommt es darauf an, dass der Output pro Stunde zunimmt, dass wir uns für unsere Arbeit mehr kaufen können an Gütern, Dienstleistungen und Freizeit. Es gibt ja heute vor allem in Europa viele Länder, in denen die Bevölkerung nicht mehr zunimmt und wo das Angebot an Arbeitskräften demnächst abnehmen wird. Für Deutschland jedenfalls gibt es nicht die Option, das Arbeitsangebot ständig auszuweiten (zumindest solange es Widerstände gegen eine nennenswerte Zuwanderung gibt) – der Schlüssel liegt für uns vielmehr in einer Steigerung der Produktivität.

Sinn plädiert einerseits dafür, die gering Qualifizierten aus ihren sozialen Hängematten zu vertreiben und zum anderen die hoch Qualifizierten relativ besser zu stellen als jetzt, so dass sie im Lande bleiben. Er würde also das Arbeitsangebot erhöhen, nicht die Produktivität der Arbeit. Das kann, wie wir in den vergangenen Jahren gesehen haben, zu mehr Beschäftigung beitragen, führt aber nicht notgedrungen, und jedenfalls nicht sofort, auch zu einem rascheren BIP-Wachstum je Arbeitsstunde. Seit 2005 ist die Produktivität in Wirklichkeit gesunken. Sinn und seine Verbündeten, die Arbeitgeberverbände, führen leider den falschen Krieg, oder kämpfen zumindest an der falschen Front. Die Investitionen müssen gefördert werden, ebenso Forschung und Entwicklung sowie das Qualifikationsniveau der Arbeitnehmer und Selbständigen. Die offensive Strategie besteht darin, die Einkommenschancen in einer hochkompetitiven Welt zu verbessern statt sich darüber zu streiten, wer welchen Anteil am einmal gebackenen Kuchen bekommt. Es ist deprimierend, dass in dieser Hinsicht so wenig geschieht und dass den steinzeitlichen Vorschlägen eines Herrn Sinn so viel Beachtung geschenkt wird. Wir brauchen in der Politikberatung vorwärtsgerichtete Strategien statt wehleidige Klagen über überbezahlte Nichtstuer. Sinn ist ein deutsches Strukturproblem.

Einige andere Anmerkungen zu Sinns Artikel in der Wirtschaftswoche:

1. Deutschland sei durch seine „Exportlastigkeit … unfreiwillig in die Rolle des Stoßdämpfers der Welt geraten“. Der Überschuss in der Leistungsbilanz geht zurück und im selben Maße vermindert sich das Defizit im Rest der Welt. Für Sinn ist das nicht schön für uns. Wer aber Interesse daran hat, dass die Ungleichgewichte im Welthandel, die einer der Auslöser der Krise waren, abgebaut werden, sollte eigentlich glücklich darüber sein – die Weltwirtschaft wird stabiler, und wir wiederum müssen etwas tun, damit das Wachstum der Inlandsnachfrage wieder in Schwung kommt, was sowohl uns als auch den anderen hilft.

2. Unsere Exportlastigkeit sei ein Problem. Finde ich nicht. In einem alternden Land gibt es immer Ersparnisüberschüsse, die im Ausland angelegt werden müssen. Das Land als Ganzes erwirbt damit Ansprüche auf künftige Einkommen, die von Ausländern (jungen Ländern) erarbeitet werden. Wir sollten allerdings die Qualifikation unserer Portfolio Manager verbessern, damit sie sich nicht immer nur den schlimmsten Schrott aufschwätzen lassen (den sie dann an die „Doofen und Alten“, wie es kürzlich in einem Fernsehbericht hieß, weiterverscherbeln). Warum können es die Schweizer, Schweden und Luxemburger so viel besser als unsere Leute?

Wer sich auf den Weltmärkten bewegt, lernt sehr schnell, woher der Wind weht und welche Produkte sich absetzen lassen. Außerdem wächst der Welthandel im Trend fast doppelt so rasch wie das globale BIP. Ein Land, das in die internationale Arbeitsteilung eingebunden ist, wird in der Regel schneller reich als eines, das sich abschottet. Exportlastigkeit und dynamischeres Wachstum im Inneren schließen sich nicht aus.

3. „Kein großes Land wird derzeit von außen so stark gebeutelt wie Deutschland.“ Stimmt nicht – Japan geht es noch viel schlechter. Und in den USA ist der Konjunktureinbruch wegen der günstigen Entwicklung im Außenhandel nicht so stark wie hier, aber dafür nähert sich die Arbeitslosenquote mit Riesenschritten der 10%-Marke. Vor nicht allzu langer Zeit betrug sie noch 4 1/2%.

4. Deutschland sei durch seine „nivellierende Lohnpolitik ….zum Weltmeister bei der Arbeitslosenquote bei den gering Qualifizierten“ geworden. Stimmt nicht, im internationalen Vergleich nimmt Deutschland hier keineswegs eine herausragende Stellung ein, wie eine Untersuchung der Bundesbank zeigt. Im ihrem Monatsbericht vom Januar 2007 gibt es auf Seite 44 ein Schaubild, aus dem hervorgeht, dass von den 14 untersuchten Ländern Deutschland den drittniedrigsten Anteil gering Qualifizierter an der Gesamtzahl der Arbeitslosen hat. „Zusammenfassend kann man festhalten, dass die Behauptung, in Deutschland sei die Arbeitsmarktlage der häufig als ‚gering qualifiziert‘ eingestuften Personen außergewöhnlich schlecht, empirisch nicht klar belegbar ist,“ heißt es dort. (S. 45)

5. Zum Thema „Vernichtung der arbeitsintensiven Binnensektoren“ und Sinns Behauptung, dass „das Dienstleistungsgewerbe dezimiert [wurde]“: Die folgende Graphik zeigt, dass ganz im Gegenteil die Beschäftigung in diesem Bereich in all den Jahren nivellierender Lohnpolitik absolut und relativ stark zugenommen hat. Sie hätte natürlich noch stärker zunehmen können, aber wer wird sich angesichts dieser Zahlen wirklich beschweren können?

Erwerbstätige im Dienstleistungssektor - Deutschland

6. Die gesamtwirtschaftliche Sparquote sei 13,1%. Das ist viel zu niedrig. In Wirklichkeit betrug die Quote 25,5%, wenn man so rechnet, wie das üblich ist, nämlich bezogen auf das BIP (und nicht wie Sinn auf das Nationaleinkommen): Im Jahr 2008 machten die Ausgaben für Ausrüstungen, Bauten und sonstige Anlagen 19,2% des nominalen BIP aus (das ist die Investitionsquote) – hinzugerechnet werden muss der positive Außenbeitrag (Nettokapitalexport) von 6,3% des BIP. Die Ersparnis ist definitionsgemäß immer gleich den Investitionen plus/minus dem Außenbeitrag. Sinn meint zudem, dass die Investitionsquote 2008 nur bei 5,4% lag – es handelt sich hier in Wirklichkeit um die Nettoanlageinvestitionen in Prozent des Nettonationaleinkommens – sie ist in der Tat, wenn auch vorwiegend aus zyklischen Gründen, sehr niedrig.

Insgesamt war es um die deutschen Investitionen in den vergangenen Jahren ganz gut bestellt: Die realen Ausrüstungen sind in der Aufschwungphase vom zweiten Quartal 2003 bis zum ersten Quartal 2008 um nicht weniger als 40,0% gestiegen; nur bei den Bauten sah es nicht so gut aus. Tendenziell scheint die Produktion immer weniger raum- und flächenintensiv zu sein, zum anderen dürften wir bei den Wohnimmobilien nahe der Sättigungsgrenze zu sein, so dass man sich über die Schwäche im Bau nicht sorgen muss.

Wenn die Konjunktur gut läuft, laufen auch die Investitionen. Von Kapitalflucht, wie sie Sinn wegen der überbezahlten gering Qualifizierten auszumachen glaubt, gibt es jedenfalls keine Spur.