Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Wer sind die Sozialschmarotzer?

 

Die Wirtschaftskrise dauert an. Die konjunkturelle Lage ist noch keinesfalls robust, und selbst bei guter Wirtschaftsentwicklung in diesem Jahr wird die Arbeitslosigkeit in Deutschland unweigerlich steigen – die Produktionskapazitäten sind noch lange nicht wieder richtig ausgelastet. Gleichzeitig laufen die öffentlichen Haushalte aus dem Ruder und jeder Euro muss mehrmals umgedreht werden, selbst ohne die ab 2016 voll greifende Schuldenbremse. Folgerichtig fangen die ersten Politiker wieder damit an, die Einsparpotenziale bei den Nutznießern der vermeintlich so üppigen sozialen Sicherungsleistungen auszuloten.

Den Vorkämpfer gibt dabei Hessens Ministerpräsident Roland Koch, der im Interview mit der Wirtschaftswoche fordert, niemand dürfe das Leben von Hartz-IV als „angenehme Variante“ sehen. „Wir müssen jedem Hartz-IV-Empfänger abverlangen, dass er als Gegenleistung für die staatliche Unterstützung einer Beschäftigung nachgeht, auch niederwertige Arbeit, im Zweifel in einer öffentlichen Beschäftigung. Dass er eben nicht bloß zu Hause sitzt.“

Der Chef der Arbeitsagentur Weise setzt im SPIEGEL-Interview in der Frage möglicher Reformen von Hartz-IV auf den Protest derjenigen, die die Sozialleistungen finanzieren. Die Grundsicherung sei schließlich eine staatliche Fürsorgeleistung, die auch Geringverdienende mit ihren Steuern finanzierten: „Halten Sie es für einen Ausweis besonderer Gerechtigkeit, wenn künftig die Friseurin den wohlhabenden Eigentümer mehrerer Immobilien mitfinanzieren würde?“ stellt sich Herr Weise die suggestive Frage.

Man könnte dem einfach entgegnen, dass einigen der Herrschaften, die sich aktuell zu dem Thema äußern, die Faktenlage in Sachen „Fordern“ der Empfänger von ALG-II offenbar verborgen geblieben ist. Man kann aber auch mit einer kleinen Überschlagrechnung versuchen, den Schaden, der den ehrlichen Zahlern von Steuern und Abgaben durch Betrug bei Hartz-IV entsteht, mit dem Schaden zu vergleichen, der hierzulande Jahr für Jahr infolge der fragwürdigen Steuermoral zu beklagen ist.

Nur einmal angenommen, volle zehn Prozent der heute rund 3,5 Millionen Bedarfsgemeinschaften, die aktuell von Arbeitslosengeld II leben, seien im Koch’schen oder Westerwelle’schen („Es gibt kein Recht auf staatlich bezahlte Faulheit“) Sinne lupenreine „Sozialschmarotzer“ – also Menschen, die ungerechtfertigt die staatlichen Unterstützungsleistungen von durchschnittlich 850 Euro im Monat in Anspruch nehmen. Der Einfachheit halber sei weiter (unrealistischerweise) angenommen, dass diese zehn Prozent tatsächlich einer Erwerbstätigkeit nachgehen könnten, die die sozialstaatliche Unterstützung nach SGB II vollständig überflüssig machen würde. Dann ergäbe sich rechnerisch ein jährlicher Schaden von 3,6 Mrd. Euro (350.000 Bedarfsgemeinschaften x 850 Euro x 12 Monate).

Der Schaden aus der jährlichen Umsatzsteuerhinterziehung liegt dagegen nach Einschätzung des Bundesrechnungshofes bereits im zweistelligen Milliardenbereich. Der Vorsitzende der Deutschen Steuergewerkschaft, Dieter Ondracek, schätzt das Volumen der jährlichen Steuerhinterziehung in Deutschland auf dreißig Milliarden Euro und Ex-Finanzminister Steinbrück ging im Steuerflucht-Streit des vergangenen Jahres sogar von hundert Milliarden Euro aus, die dem Fiskus jährlich durch Steuerhinterziehung verloren gehen. Nicht unerwähnt sollte dabei bleiben, dass die gering entlohnten Beschäftigten, deren Ausbeutung durch die Sozialschmarotzer besonders BA-Chef Weise beklagt, ihrerseits entweder gar keine Steuern bezahlen (weil sie dafür schlicht zu wenig verdienen) oder zumindest durch den direkten Steuerabzug vom Lohn in ihren eigenen Steuerhinterziehungsmöglichkeiten deutlich begrenzt werden.

Welcher Schluss lässt sich dann ziehen, wenn man allein die konservativere Schätzung zur Steuerhinterziehung nimmt und sie mit der – ganz sicher überzeichneten – Kalkulation der Schäden durch ALG-II-Betrüger vergleicht? Möglicherweise doch der, dass es Missbrauch offenbar in allen Bevölkerungsschichten gibt, aber der Missbrauch der viel beschworenen „Leistungsträger“ die Gemeinschaft finanziell deutlich teurer zu stehen kommt als der der Bezieher der sozialen Grundsicherung.

Vielleicht könne man auch zu dem Schluss kommen, dass die arbeitende Bevölkerung mit nur geringen oder durchschnittlichen Einkommen wesentlich mehr davon hätte, wenn die Politik die Steuerhinterziehung konsequenter bekämpfen würde – anstatt sich auf die rund fünf Millionen erwerbsfähigen Hilfeempfänger einzuschießen, die sich aber auch partout weigern, die knapp eine halbe Million bei der BA gemeldeten freien Stellen zu besetzen. Möglicherweise sollte der Staat einfach einmal über die Einstellung von zusätzlichen Steuerfahndern nachdenken. Damit wäre schließlich gleichzeitig etwas für die Beschäftigung getan.

Ein Problem mit der Steuerfahndung scheint übrigens besonders das von Roland Koch regierte Land Hessen zu haben. Eigene schwarze Kassen außerhalb des Zugriffs des deutschen Fiskus (a.k.a. „jüdische Vermächtnisse“) unterhält man dort nach eigener Auskunft zwar nicht mehr. Dafür aber sorgte die oberste Finanzverwaltung im Lande scheinbar jahrelang dafür, dass die Leistungsträger von unerhört hohen Steuerbelastungen verschont blieben. Unliebsame Beamte der Steuerfahndung, die höchst erfolgreich Steuersündern auf der Spur waren, wurden durch psychiatrische Gutachten außer Gefecht gesetzt. Im ebenfalls höchst lehrreichen „Fall Wolski„, in dem zur Zeit vor dem Landgericht Darmstadt gegen den Ehemann einer der Hessen-CDU nahestehende Richterin verhandelt wird, wurde vom zuständigen Finanzamt aus bislang ungeklärten Gründen über Jahre gleich gar nicht nach der Einkommenssteuererklärung oder monatlichen Umsatzsteuer-Voranmeldungen gefragt.

Dass sich Roland Koch nun an vorderster Front am Einprügeln auf vermeintliche Nutznießer der „sozialen Hängematte“ beteiligt („Wir haben Menschen, die mit dem System spielen und Nischen ausnutzen“), während seine eigene Verwaltung die Verfolgung der Steuerhinterziehung wohlhabender Bevölkerungskreise scheinbar gezielt hintertreibt – das ist allerdings an Dreistigkeit kaum mehr zu überbieten.