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Danke, wir können nicht klagen!

 

Im Wall Street Journal gab es am 11. Oktober einen erstaunlichen Bericht mit der Überschrift „Wall Street Pay: A Record $144 Billion“ – dabei handelt es sich um eine Schätzung für die drei Dutzend größten Finanzunternehmen. Während die amerikanische Wirtschaft insgesamt immer noch darniederliegt, ist die Wall Street „back to normal“. Die Einkommen werden 2010 so hoch ausfallen wie zu besten Zeiten. Ich schätze mal, dass das Durchschnittseinkommen in diesen Unternehmen, also einschließlich der Einkommen von Pförtnern und Sekretärinnen, irgendwo zwischen 200.000 und 400.000 Dollar liegen wird – bei Goldmann Sachs dürften vermutlich sogar mehr als eine halbe Million herauskommen. Die Gewinne des Finanzsektors haben schon wieder einen Anteil von mehr als 20% an den Unternehmensgewinnen insgesamt, so wie es in den Jahren von 1990 bis 2008 zur Regel geworden ist. Dabei arbeiten gerade einmal viereinhalb Prozent aller Erwerbstätigen in der Finanzbranche. Wir haben es mit einer unglaublichen Marktverzerrung zu tun.

Grafik: Gewinne des US-Finanzsektors in % der Unternehmensgewinne insgesamt

Wie schwierig in den USA die wirtschaftliche Lage außerhalb des gesegneten Finanzsektors übrigens sein muss, zeigen die folgenden Zahlen: die Gesamtzahl der Beschäftigten lag im September immer noch um 4,8 Prozent unter dem bisherigen Höchstwert von November 2007 (in Deutschland ist der Beschäftigungseinbruch dagegen bereits wettgemacht!); die Anzahl der Arbeitslosen plus der Gelegenheitsarbeiter plus der aus wirtschaftlichen Gründen notgedrungen nur Teilzeitbeschäftigten liegt bei nicht weniger als 17 Prozent des Arbeitskräftepotentials – verglichen mit 8 Prozent zu Zeiten des konjunkturellen Hochs vor vier Jahren. Es ist keine Besserung in Sicht. Zu den amerikanischen Durchschnittseinkommen: Sie betragen rund 33.000 Dollar pro Kopf und sind preisbereinigt seit Jahren nicht mehr gestiegen. Bei einem Viertel aller Haushalte sind die Hypothekenschulden wegen der stark gesunkenen Hauspreise höher als der Marktwert ihrer Immobilien, was dazu führt, dass die Leute ihre Häuser nur schwer verkaufen können und auf einmal nicht mehr mobil sind, was wiederum die strukturelle, also die dauerhafte Arbeitslosigkeit erhöht. Nach den neuesten Zahlen sinken die Hauspreise, die sich zwischenzeitlich etwas erholt hatten, erneut, so dass immer breitere Bevölkerungsschichten überschuldet sind.

Gemessen an den Zuwachsraten des realen Sozialprodukts ist die amerikanische Wirtschaft seit mehr als einem Jahr im Aufschwung, es kommt den Normalbürgern aber immer noch so vor, als herrsche eine tiefe Rezession.

Umso mehr muss verbittern, dass es an der Wall Street schon wieder hoch hergeht. Ich frage mich, warum der Markt diese wahnwitzigen Einkommensprämien für die Finanzleute hervorbringt. Wo liegt die besondere Leistung, oder wo sind die Innovationen oder der gesellschaftliche Nutzen, der das rechtfertigen könnte? Ich bin nicht der Einzige, der sich da wundert. Sie kennen vermutlich das folgende Zitat von Paul Volcker, dem früheren Chef der Fed – ich wiederhole es, weil er nicht verdächtigt werden dürfte, klassenkämpferische Thesen zu vertreten:

„Ich wünschte, jemand würde mir auch nur den geringsten neutralen Beweis für den Zusammenhang zwischen innovativen Finanzprodukten und dem Wachstum der Volkswirtschaft liefern. […] Die wichtigste Finanzinnovation, die ich in den vergangenen zwanzig Jahren erlebt habe, ist der Geldautomat, der hilft den Menschen wirklich.“ Das findet sich auf Seite 541 in dem sehr lesenswerten Buch „Die Unfehlbaren“ von Andrew R. Sorkin, einem 33-jährigen Finanzmarktjournalisten, der für die New York Times arbeitet. Wenn ich ein junger Mann wäre, würde ich versuchen, für ihn eine Weile als Assistent oder Praktikant zu arbeiten – er ist ein echter Profi (so wie Thomas Tuchel von Mainz 05 im Fußball).

Das ist doch mal eine Aussage: All dieser Hokuspokus von Financial Engineering, Dienst am Kunden, oder von der angemessenen Belohnung für die Übernahme von Risiken ist eine Verschwendung von Zeit, Kapital und Talent. Am Ende kommt nichts dabei raus, was der Allgemeinheit nützen würde – den Nutzen haben nur diejenigen, die in dem Bereich arbeiten. Dabei rede ich nicht von den Angestellten bei meiner Sparkasse um die Ecke. Die hohen Gehälter locken eine unangemessen große Zahl intelligenter Leute in den Sektor, die an anderer Stelle echte Wertschöpfung betreiben könnten.

Zudem: Wenn es nur um die hohen Einkommen ginge! Noch ärgerlicher ist, dass der Finanzsektor, nachdem er die Karre mit einem Übermaß an geliehenem Geld in den Sand gesetzt hat, also unter seinen Schulden zusammenzubrechen droht, vom gemeinen Steuerzahler gerettet werden möchte. Und der macht das auch, weil andernfalls etwas ganz Furchtbares passieren würde. Da die Sache so kompliziert ist, weiß er zwar nicht, ob das stimmt, aber da die Banker so smart sind und sich in der Welt auskennen, werden sie wohl recht haben. Lieber den Gürtel für eine Weile enger schnallen als sich auf existenzbedrohende Risiken einzulassen!

Bei der jüngsten Finanzkrise sind die Gläubiger der konkursreifen Institute mehr oder weniger ungeschoren davongekommen, anders als die Aktionäre und die 10 bis 20 Prozent der Angestellten, die entlassen wurden. Wer sind die Gläubiger? Vor allem die Sparer mit ihren Einlagen bei den Banken und Beständen an Bankanleihen sowie die sogenannten institutionellen Anleger wie beispielsweise Versicherungen und Investment Fonds. Weil sie unter Artenschutz zu stehen scheinen, lief die Rettung diskret über die Staatshaushalte. Die Defizite erhöhten sich einfach, die Staatsschulden auch, aber niemand war direkt und fühlbar betroffen. Nicht einmal die Zinsen stiegen, das heißt es kam nicht einmal zu Kursverlusten bei den festverzinslichen Papieren, weil die Inflation im Verlauf der Rezession, die auf die Finanzkrise folgte, eher zurückging als stieg.

Die Gewissheit, dass nach dem Motto „heads I win, tails you lose“ (ich gewinne immer!) verfahren wird, die Gewinne an mich, die Verluste an die Allgemeinheit, ist im Grunde nicht erschüttert worden. Die amerikanischen Banken betreiben schon wieder so viel Eigenhandel wie vor der Krise, wobei „Eigenhandel“ ein Euphemismus ist: Sie handeln ja überwiegend mit dem Geld fremder Leute.

Schön ist aus ihrer Sicht auch, dass einige Wettbewerber aus dem Markt verschwunden sind, beispielsweise Bear Sterns und Lehman, und dass andere ihre globalen Ambitionen stark zurücknehmen mussten: Stichworte sind Commerzbank, die Landesbanken, einige britische, holländische und französische Banken. Wer überlebt hat, der hat automatisch einen größeren Marktanteil als zuvor. Oder anders: Wenn es schon vorher ein Problem mit dem „Too big to fail“ gab, so haben wir heute erst recht ein Problem damit.

Es ist nicht gelungen, die Banken zu zerschlagen, wie es etwa Mervin King von der Bank of England oder Paul Volcker vorgeschlagen hatte, oder wie es auch Barack Obama einst im Sinn hatte. Der Armee von Lobbyisten sind die Politiker, die die Gesetze machen, einfach nicht gewachsen. Ein immer wieder überzeugendes Argument derjenigen, die alles beim Alten lassen wollen, besteht zumindest in den USA und in Britannien darin, dass die großen „national champions“ – jedenfalls die gesunden unter ihnen – wichtige Devisenbringer, Steuerzahler und Arbeitgeber sind. Auch was die Parteispenden angeht, sind sie zusammen mit den Rechtsanwälten immer ganz vorne mit dabei. Es wird also keine Aufspaltung in ein langweiliges Brot- und Buttergeschäft einerseits und, salopp gesagt, Zockerbuden andererseits geben. Es wurde diskutiert, die Einen streng zu beaufsichtigen und mit einer staatlichen Überlebensgarantie zu versehen – Eigenhandel in Devisen, Aktien, Derivaten wäre ihnen untersagt -, die anderen dürften dagegen keine Kundeneinlagen annehmen, dürften aber mehr oder weniger frei spekulieren – mit ihrem eigenen Geld. Daraus ist nichts geworden. Die neuen Basler Eigenkapital- und Liquiditätsanforderungen werden für die wiedergeborenen Giganten keine echten Bremsen darstellen.

Auch die Pläne, die Boni der Banker zu begrenzen, sind bisher ins Leere gelaufen. Höchstens bei staatlich kontrollierten Banken wie der Commerzbank, der Hypo Real Estate oder den großen französischen Banken lässt sich das machen, in den USA gelingt aber selbst das nicht, wie am Beispiel der Citigroup zu sehen ist. Warum nicht? Weil ihnen sonst angeblich die besten Leute abgeworben werden, was wiederum für die Betroffenen existenzgefährdend sei. Dabei gibt es hier ein gutes Gegenargument: Wer sich unterbezahlt fühlt, weil er höchstens armselige 500.000 Euro im Jahr verdienen darf, kann sich ja selbständig machen – die guten Leute mauserten sich zu echten Unternehmern, was den Wettbewerb im Finanzsektor befeuern und uns Marktwirtschaftlern sehr gefallen würde.

Andere Vorschläge, die dazu beitragen würden, das Größenproblem bei den Banken ein für alle Mal zu lösen, haben es allesamt nicht über die Diskussionsphase hinaus geschafft, etwa die Mindestreserve, die bei der Zentralbank zu halten ist, progressiv mit der Bilanzsumme anzuheben, oder die Eigenkapitalpuffer stark zu erhöhen, wenn sich kreditgetriebene Blasen an den Märkten für Immobilien und Aktien bilden.

Ich muss zum Schluss noch mal Paul Volcker zitieren. Ich habe die Stelle in einem anderen tollen Buch gefunden, den „13 Bankers“ von Simon Johnson und James Kwak (S. 189): „Auf was das Ganze (die Reformen und Rettungsaktionen) hinausläuft, ist eine unbeabsichtigte und überraschende Vergrößerung des Auffangnetzes. […] Es besteht eindeutig die Gefahr, dass das Eingehen von Risiken im Laufe der Zeit wieder zum guten Ton gehören wird und Vorsichtsmaßnahmen (prudential restraint) in den Wind geschlagen werden. Letztlich nimmt die Wahrscheinlichkeit neuer und immer größerer Krisen zu.“ Klingt nach Karl Marx, oder?