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Inflation wird bald zurückgehen

 

Gestern habe ich für 1,539 Euro den Liter getankt, und ich gehe davon aus, dass mir mein Stromversorger in Kürze die Preise um 20 Prozent oder so erhöhen wird. Ich sehe gerade, dass die von den Energierohstoffen getrieben Einfuhrpreise im Februar um 11,9 Prozent über ihrem Vorjahreswert lagen. Nicht nur das, sie steigen sogar immer rascher, nämlich mit einer annualisierten Rate von 17,1 Prozent in den vergangenen sechs Monaten. Da die Importe von Gütern und Dienstleistungen im vergangenen Quartal annualisiert 1062 Mrd. Euro betrugen, bei einem BIP von 2524 Mrd. Euro, könnten mich solche Zahlen erschrecken. Tun sie aber nicht. Ich glaube nicht, dass sich eine neue Inflationsmentalität breit macht.

Einfuhr- und Verbraucherpreise in Deutschland

Wir haben es hier mit einer Veränderung der relativen Preise zu tun, möglicherweise sogar nur mit einer temporären Veränderung, nicht dagegen mit einem dauerhaft steileren Anstieg der Verbraucherpreise. Das gilt, so weit ich das sehe, nicht nur für Deutschland, sondern auch für das Euroland insgesamt und selbst für die Weltwirtschaft. Wenn sich eine wichtige Komponente im Preisindex kräftig verteuert, heißt das nicht, dass sich der Index insgesamt kräftig erhöht.

Wenn ich mehr für meinen Energieverbrauch ausgeben muss, bleibt mir nichts anderes übrig, als an anderer Stelle zu sparen. Die reduzierte Nachfrage nach, sagen wir mal, Büchern oder Rumpsteaks wird deren Preise drücken, so dass sich beim Gesamtindex nicht viel tun wird. Nur wenn ich weniger spare als bisher, ich also genauso viele Bücher und Rumpsteaks kaufe wie vor dem Schub bei den Energiepreisen, wäre der Gesamtindex stärker betroffen. Es käme in der Tat zu wesentlich höheren Inflationsraten.

Außerdem: Ich werde nicht so viel Auto fahren und stattdessen den Bus oder das Fahrrad nehmen, und versuchen, weniger Energie zu verbrauchen, vor allem also weniger zu duschen und nicht so viel fernzusehen. Mein Warenkorb wird sich in Reaktion auf die Preissignale ändern. Die Gewichte, die das Statistische Bundesamt den einzelnen Verbrauchskomponenten aufgrund von regelmäßigen Stichproben zuteilt, stimmen daher nicht mehr. Von dem, was teurer geworden ist, kaufe ich weniger: Die Veränderung des Preisindex auf der Basis der alten Gewichte überzeichnet die tatsächliche Inflation.

Weswegen ich mit rückläufigen Inflationsraten auf der Verbraucherebene rechne, hat aber vor allem mit der Kapazitätsauslastung zu tun. Nach wie vor ist sie in Deutschland und den anderen reichen Ländern sehr niedrig. So war zwar die deutsche Industrieproduktion im Januar um 13,1 Prozent höher als ein Jahr zuvor, sie lag aber immer noch um 5,9 Prozent unter dem zyklischen Hoch vom ersten Quartal 2008. Berücksichtige ich zudem, dass der potenzielle Output der Industrie wegen der positiven Nettoinvestitionen und des stetigen Anstiegs der Produktivität über das konjunkturelle Auf und Ab hinweg jährlich um etwa 1,5 Prozent zunimmt, beträgt der Abstand zwischen dem, was aktuell produziert wird und dem, was ohne besondere Anstrengungen produziert werden könnte, rund 10 Prozent. Für die Unternehmer in der Industrie ist es daher nicht leicht, ihre Preise zu erhöhen. Sie geben zwar eine Menge mehr für ihre importierten Inputs aus, beim Überwälzen der gestiegenen Kosten an ihre Abnehmer aber hapert es.

Ich habe eine solche Rechnung, wie früher schon einmal, für das BIP der Währungsunion angestellt. Die gesamtwirtschaftliche Produktion liegt danach in diesem Frühjahr immer noch zwischen sechs und sieben Prozent unter ihrem Potenzial.

Trendwachstum und Outputlücke in Euroland

Wenn ein so großer Teil der Kapazitäten nicht genutzt wird, ist der Wettbewerb besonders scharf. Wer seine Preise erhöht, gefährdet seinen Umsatz. So schlimm ist die Lage allerdings noch nicht. Immerhin steigen die deutschen industriellen Erzeugerpreise seit einiger Zeit ebenfalls beschleunigt, nämlich mit einer Verlaufsrate von 8,0 Prozent (August bis Februar), und von 6,4 Prozent in der Eurozone (Juli-Januar). Kurz, zum Teil ist es trotz der niedrigen Kapazitätsauslastung möglich, die Importkosten zu überwälzen.

Da aber auf den nachgelagerten Stufen ebenfalls Produktionsreserven existieren, vor allem in Form hoher Arbeitslosigkeit, kommt beim Verbraucher nur ein relativ geringer Teil des ursprünglichen Kostenschubs an. Um wieder auf die letzten sechs Monate abzustellen: Die deutschen Konsumentenpreise sind in dieser Zeit mit einer annualisierten Rate von 2,6 Prozent, die von Euroland insgesamt mit einer von 2,0 Prozent gestiegen. Damit sind die Inflationsraten zwar deutlich höher als vor einem Jahr, als auch ich noch dachte, dass Deflation ein echtes Risiko sei, sie liegen aber insgesamt noch im grünen Bereich.

Vor allem, wenn ich die Preise für Energie ausklammere, kann ich keine Inflationsgefahren erkennen. Der so bereinigte deutsche Preisindex ist von August bis Februar auf’s Jahr hochgerechnet mit einer Rate von 0,9 Prozent gestiegen, und wenn ich jetzt noch die saisonalen Nahrungsmittel, die sich zuletzt rapide verteuert hatten, außen vor lasse, komme ich auf etwa Null Prozent. Kann man Preisstabilität nennen. Das Gleiche gilt für Euroland insgesamt. Nicht selten ist die sogenannte Kerninflationsrate ein Frühindikator für die tatsächliche Inflation. Die Aussichten könnten also positiver nicht sein.

In der Vergangenheit war Inflationsmentalität eng verbunden mit dem Anstieg der Reallöhne. Wenn die Arbeitnehmer in der Lage waren, ihre Löhne angesichts von Vollbeschäftigung deutlich rascher zu steigern als die Unternehmen ihre Produktivität, war es verhältnismäßig leicht, die Kosten zu überwälzen, woraus sich dann eine Lohn-Preisspirale entwickelte. Das war zu Zeiten, als die Gewerkschaften noch stark waren, und zwar nicht nur die im öffentlichen Dienst. Inzwischen hat sich das radikal geändert. Seit Jahrzehnten sind ihnen die Mitglieder weggelaufen, und von übermäßigen Lohnerhöhungen können sie nur träumen. Für immer weitere Bereiche der Volkswirtschaft werden die Löhne inzwischen nicht mehr national, sondern international gesetzt. Das ist eine fast zwangsläufige Folge der immer intensiveren globalen Arbeitsteilung: Der chinesische Facharbeiter, der Hochgeschwindigkeitslokomotiven (was für ein schönes langes Wort!) herstellt, bestimmt zunehmend, wie viel sein deutscher Kollege verdienen kann: Sein Lohn liegt heute bei etwa einem Zehntel dessen, was sein deutscher Kollege verdient, die Qualifikationsunterschiede rechtfertigen den Unterschied aber tendenziell immer weniger. Da ist nicht viel zu machen außer sich ständig weiterzubilden und, auf der Unternehmensebene, zu rationalisieren und die Kapitalintensität der Produktion zu erhöhen. Insgesamt sind die Arbeitnehmer in den reichen Länder in keiner starken Verhandlungsposition.

Wie sehen die Zahlen aus? Im vierten Quartal übertraf der deutsche Index der Bruttolöhne und -gehälter seinen Vorjahresstand um 1,0 Prozent, sowie den von vor zwei Jahren um 1,3 Prozent. Die Lage hat sich also zuletzt etwas verbessert, aber sie ist und bleibt deprimierend. Gut, dass wenigstens die Beschäftigung steigt (+1,2 Prozent ggVj im Januar). Die Lohnstückkosten, also die Löhne bereinigt um die Veränderung der Produktivität, sinken seit zwei Jahren und sind de facto immer noch auf dem Niveau von vor 15 Jahren. Im Euroland lagen die Löhne und Gehälter je Arbeitsstunde zuletzt um 0,8 Prozent über ihrem Vorjahreswert. Wo soll da Inflation herkommen?

Ohne Frage wird zur Zeit Inflation importiert, aber an der fundamentalen Preisstabilität, die hierzulande herrscht, ändert das nichts. Das ist der Grund, weshalb die Renditen der deutschen Staatsanleihen auch bei den langen Fristen kaum höher als 3 Prozent sind. Inflation ist schon lange nicht mehr das Schreckgespenst, das sie einst war. Deswegen denke ich auch nicht, dass die EZB die Zinsen aggressiv erhöhen wird. Bei Vollbeschäftigung wären etwa vier Prozent angebracht, was der trendmäßigen Zuwachsrate des nominalen Bruttoinlandsprodukts entspricht. Die voraussichtliche Erhöhung um 25 Basispunkte auf 1,25 Prozent am 7. April sind eigentlich nur als ein Lebenszeichen der Notenbank zu deuten – seht her, ich bin auch noch da! Wauwau! Die Geldpolitik bleibt extrem expansiv. Das macht aber nichts.