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EZB weniger expansiv als es scheint

 

Die Europäische Zentralbank hat am 13. April ihren Leitzins auf 1,25 Prozent angehoben. Er ist damit immer noch auf einem rekordniedrigem Niveau. Die meisten Analysten und Marktteilnehmern halten die Geldpolitik daher weiter für extrem expansiv. Das gelte vor allem für Deutschland, dessen Wirtschaft im ersten Quartal saisonbereinigt um fast ein Prozent gegenüber dem vierten Quartal 2010 gewachsen ist, wenn mein Mitblogger Uwe Richter mit seiner Schätzung recht hat. Das reale Inlandsprodukt wäre damit im ersten Quartal bis auf 0,5 Prozent an seinen bisherigen Höchststand vom ersten Quartal 2008 herangekommen. Aber dennoch bleibt nach wie vor eine große Outputlücke. Warum? Weil das Produktionspotential nach meinem Verständnis in diesen drei Jahren um 1,5 Prozent pro Jahr zugelegt hat: Die Differenz zwischen aktuellem BIP und dem Potentialwert betrug im ersten Quartal 5 Prozent. Von Vollauslastung und damit von Inflationsgefahren kann also selbst in dem Land der Währungsunion, das zur Zeit relativ am stärksten wächst, noch keine Rede sein.

Deutschalnd - Reales BIP mit Trend und Outputlücke

Zu einem ähnlichen Ergebnis komme ich, wenn ich mir die deutsche Industrie ansehe, die im Trend mit einer jährlichen Rate von 1,4 Prozent wächst. Trotz des steilen Anstiegs des Outputs im Produzierenden Gewerbe einschließlich Bau, der zuletzt zu Zuwachsraten geführt hat, die sich mit den chinesischen messen können, blieb nach Uwes Berechnungen im ersten Quartal eine Lücke von durchschnittlich 7,6 Prozent.

Dt. Industrieproduktion mit Trend

Je größer diese Lücken sind, desto niedriger dürfen, ja müssen die Notenbankzinsen sein. Auch die EZB hat ja die Aufgabe, die allgemeine Wirtschaftspolitik zu unterstützen, wenn das Ziel der Preisstabilität nicht gefährdet ist. Das heißt, sie muss in einem solchen Fall alles tun, damit sich das Wirtschaftswachstum beschleunigt und Vollbeschäftigung erreicht wird. Hierzulande ist die Arbeitslosenquote zwar von einst fast 12 Prozent auf 7,1 Prozent gefallen, das ist aber nach wie vor weit über dem, was ich eine „natürliche“ oder unvermeidliche Arbeitslosigkeit nennen würde. In der Schweiz etwa beträgt die Quote 3,3 Prozent, in Dänemark 4,0 Prozent. Da wollen wir hin, möchte ich meinen. Im Euroland insgesamt haben wir es immer noch mit etwa 10 Prozent zu tun, und mit einer Outputlücke, die nicht kleiner ist als in Deutschland.

Ich habe mir, angeregt durch einen Artikel von Robin Harding in der Financial Times vom Mittwoch („When timing is all“), mal wieder überschlägig den sogenannten Taylor-Zins berechnet. Das ist eine Art Zielzins für Notenbanken, die ein bestimmtes Inflationsziel verfolgen und dabei die aktuelle Konjunkturlage mitberücksichtigen. Aus deutscher Sicht müsste der Notenbankzins demnach bei -1,5 Prozent liegen, also um nicht weniger als 2,75 Prozentpunkte unter dem neuen Hauptrefinanzierungssatz der EZB. Wenn ich wollte, könnte ich die Geldpolitik also als ziemlich restriktiv bezeichnen.

Wie komme ich auf -1,5 Prozent? Taylors Formel geht so: Der „Zielzins“ ist die Summe aus

– dem Deflator des Bruttoinlandsprodukts; der lag im vierten Quartal bei 0,3 Prozent (Vorjahresvergleich),

– dem mittelfristigen realen Gleichgewichtszins, der etwa dem Trendwachstum des deutschen BIP von 1,5 Prozent entsprechen dürfte,

– der Differenz aus aktueller und angestrebter Inflationsrate multipliziert mit 0,5, also 0,3 minus 1,9 Prozent, gleich -1,6 mal 0,5, gleich -0,8 Prozent,

– sowie der Differenz aus aktuellem realen BIP und Produktionspotential, also der Outputlücke, multipliziert mit 0,5 – wie erwähnt betrug diese Outputlücke etwa 5 Prozent.

Das ergibt 0,3 + 1,5 – 0,8 – 2,5 = -1,5 Prozent. In den USA müsste die Fed Funds Rate übrigens, wenn ich mir die Graphik in Hardings Aufsatz ansehe, bei -4 Prozent liegen. Die Fed ist daher noch restriktiver als die EZB, jedenfalls nach der Taylor-Regel.

Man kann natürlich einwenden, dass die EZB sich ja gar nicht um den BIP-Deflator kümmert, sondern, wie jedermann sonst auch, um die Verbraucherpreise, und die lagen in Deutschland zuletzt um 2,3 Prozent über ihrem Stand von vor einem Jahr. Der angemessene Notenbankzins nach der Taylor-Regel wäre aus deutscher Sicht dann um drei Prozentpunkte höher, er läge also bei +1,5 Prozent, und nicht bei -1,5 Prozent. Bei ihrem aktuellen Zinsniveau ist die Geldpolitik der EZB auch dann allenfalls neutral keineswegs aber expansiv.

Beide Berechnungen, ob mit BIP-Deflator oder Verbraucherpreisen sind für mich Beleg dafür, dass die europäische Geldpolitik weniger expansiv ist als allgemein angenommen. Noch herrscht Unterbeschäftigung! Zudem sieht es trotz boomender Rohstoffpreise nicht nach einem nachhaltigen Anstieg der aktuellen, und vor allem auch nicht der erwarteten Inflation aus. Die deutschen tariflichen Stundenlöhne lagen im Januar und Februar im Durchschnitt 1,8 Prozent über ihrem Vorjahresstand; da die Produktivität zur Zeit stark steigt, dürften die Lohnstückkosten deutlich niedriger gewesen als vor Jahresfrist – von den Löhnen geht ein deflationärer Effekt aus.

Es ist ja auch nicht so, dass die Geldpolitik schon deshalb die Zügel anziehen sollte, weil die Finanzpolitik so expansiv ist. Aus deutscher Sicht jedenfalls ist sie recht restriktiv. Je größer nämlich die Output-Lücke, desto größer darf normalerweise, also bei akzeptablem staatlichen Schuldenstand, das Budgetdefizit sein. Nun sprudeln aber die Steuereinnahmen wegen der sehr robusten Konjunktur so stark, dass das Haushaltsdefizit in diesem Jahr gemessen am nominalen BIP auf 1,8 Prozent zurückgehen wird, sagen die Institute in ihrer Frühjahrsdiagnose. Laut der Konsensprognose im statistischen Anhang des Economist wird es sogar auf 0,5 Prozent sinken. So oder so, hierzulande wirkt die Finanzpolitik restriktiv und benötigt daher kein geldpolitisches Gegensteuern.

Expansive Effekte kommen vor allem von Seiten des Wechselkurses. Real und handelsgewogen ist der „deutsche“ Euro seit seiner Einführung um etwa 10 Prozent gesunken, wodurch sich die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft enorm verbessert hat. Seit Ende 2009 hat es beim Wechselkurs noch mal einen richtigen Schub gegeben: nicht so gut für die „headline“-Inflation, aber gut für die deutsche Konjunktur.

Realer effektiver Wechselkurs für Deutschland

Mit anderen Worten, selbst aus unserer nationalen Perspektive spricht per Saldo wenig dafür, die Zinsen aggressiv weiter zu erhöhen. Ich hoffe mal, dass die EZB das auch so sieht. Es muss ihr Ziel sein, die Bemühungen, die Staatshaushalte und die Banken zu konsolidieren, und damit die Stabilität des Euro zu erhalten, nicht durch eine restriktive Geldpolitik zu konterkarieren.