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Eine Finanzunion muss nicht teuer sein

 

Eurolands Wirtschaft ist dabei, außer Kontrolle zu geraten. Wenn die Eurokrise nicht schnellstens beigelegt wird, steuert die Währungsunion geradewegs auf eine neue Rezession zu. Der Euro würde dafür verantwortlich gemacht und damit zunehmend in Frage gestellt. Währungsunion gleich Rezessionsunion? Das kann es nicht sein. Wir brauchen eine große Lösung, Flickschusterei reicht nicht mehr.

Das Strukturproblem des Euro besteht darin, dass es keine gemeinsame Finanzpolitik gibt. Die Volkswirte und vermutlich auch die meisten Politiker wissen das schon längst, nur hat kaum jemand darüber reden wollen, weil der Verlust nationalstaatlicher Autonomie als nicht vermittelbar galt. Die Märkte erzwingen jetzt aber eine Entscheidung: Entweder wir geben den Euro auf, oder wir machen einen großen Schritt in Richtung gemeinsame Finanzpolitik, einschließlich Transferunion und Vergemeinschaftung der Staatsschulden. Die Kosten einer solchen Union sind geringer als man denkt, vor allem im Vergleich zu den Alternativen.

Die Eurokrise ist entscheidend dafür verantwortlich, dass alle Frühindikatoren im freien Fall sind und die Wachstumsprognosen ständig nach unten revidiert werden. Für das reale BIP Eurolands wird 2012 im Allgemeinen nur noch eine Zuwachsrate von weniger als ein Prozent erwartet. Die Analysten von JPMorgan vermuten sogar, dass es im Vorjahresvergleich zu einem Rückgang von 0,7 Prozent kommen wird! Da die Wirtschaft der Währungsunion die bei Weitem wichtigste Rolle im internationalen Handel spielt, wird der Rest der Welt zwangsläufig von dieser Krise angesteckt, sodass das globale BIP nur noch um zwei Prozent zunehmen wird, also halb so rasch wie im Trend. Trübe Aussichten also für die Arbeitsmärkte.

Per Saldo wird in der Währungsunion eine pro-zyklische Finanzpolitik betrieben. Pro-zyklisch deshalb, weil die Wirtschaft nach wie vor weit von Vollauslastung entfernt ist und die Restriktionsmaßnahmen die Lage ständig verschlimmern. In den Ländern, deren Zugang zu den Kapitalmärkten wegen allzu hoher Defizite und Schulden auf dem Spiel steht, jagt ein Sparprogramm das nächste. Selbst Frankreich ist inzwischen in das Visier der Spekulanten geraten, sodass es nunmehr auch dort zu einer restriktiven Wirtschaftspolitik kommen dürfte.

Hier eine überschlägige Berechnung der aktuellen Output-Lücke Eurolands: Das reale BIP hatte im ersten Quartal 2008 einen Wert von 1.969 Milliarden Euro erreicht, im dritten Quartal 2011 lag es erst wieder bei 1.935 Milliarden Euro. Da die Trendwachstumsrate etwa 1,9 Prozent pro Jahr beträgt, ist das Produktionspotential in diesen dreieinhalb Jahren auf 2.110 Milliarden Euro gewachsen, sodass die Unterauslastung zuletzt bei rund acht Prozent lag. Eurolands Wirtschaft brauchte also eigentlich ein wirksames Stimulans – wenn da nicht die Kapitalmärkte wären, die genau das Gegenteil erzwingen.

Grafik: Euroland - BIP mit Trend, 2011Q3

Die Zahlen vom europäischen Arbeitsmarkt bestätigen die These von den gewaltigen brach liegenden Ressourcen: Wäre alles „normal“ verlaufen, hätte es also keine tiefe Rezession gegeben, betrüge die gesamtwirtschaftliche Beschäftigung gegen Ende 2011 rund 156 Millionen Menschen – in Wirklichkeit sind es aber nur 147 Millionen. Nach wie vor steigt auch die Arbeitslosenquote. Sie ist seit ihrem letzten zyklischen Tiefpunkt im März 2008 von 7,3 Prozent auf zuletzt 10,2 Prozent geklettert (16,2 Millionen Arbeitslose gab es im September dieses Jahres). Sorgen machen vor allem die Jugendlichen (unter 25 Jahre), deren Arbeitslosenquote in diesem Zeitraum von 15,1 Prozent auf 21,2 Prozent in die Höhe geschossen ist.

Grafik: Euroland - Beschäftigung und Arbeitslosenquote 2011Q3

Die prozyklische Finanzpolitik wird nur teilweise durch den leicht rückläufigen Außenwert des Euro und die expansive Geldpolitik kompensiert. In einer Krise wie der gegenwärtigen kann allerdings auch eine expansive Geldpolitik nicht mehr viel bewirken: Zu viele Akteure sind vorrangig damit beschäftigt, ihre (Hypotheken-) Schulden abzubauen und ihre Bilanzen zu bereinigen. Die Banken werden zudem von der Politik gezwungen, bis zum Sommer ihre Eigenkapitalbasis kräftig zu stärken. Da die Anleger Bankaktien scheuen wie der Teufel das Weihwasser, ist den Vorständen der Zugang zu den Aktienmärkten de facto versperrt, sodass ihnen nichts übrig bleibt als sich gesund zu schrumpfen: Sie entlassen in großem Stil Mitarbeiter und reduzieren ihre Aktivseite, schränken also die Kreditvergabe ein. All das wirkt ebenfalls höchst pro-zyklisch.

Euroland braucht angesichts seiner großen Output-Lücke aber Wachstum. Wenn die Märkte die Regierungen zwingen, mitten im Abschwung Ausgabendisziplin zu üben und die Einnahmen zu steigern, müsste der private Sektor als Ausgleich entsprechend mehr ausgeben. Wenn alle nur sparen wollen, braucht niemand mehr zu arbeiten. Anders als in einem privaten Haushalt, wo es hilft, wenn alle kürzer treten, um die eigenen Finanzen zu sanieren, muss es in einer Volkswirtschaft auch Akteure geben, die sich verschulden und das Geld der Sparer ausgeben. Andernfalls beschleunigt sich der Abschwung.

Viele Staaten Eurolands sind ohnehin in einem Teufelskreis: Wenn sie aus Gründen der Haushaltskonsolidierung die Konjunktur bremsen, brechen ihnen die Steuereinnahmen weg und die Sozialausgaben steigen; es kommt dann schnell zu weiter steigenden Defiziten, zu einer Abstrafung durch die Märkte und die Rating-Agenturen, zu höheren Schuldzinsen, zu noch ehrgeizigeren Sparpaketen, und so weiter. Haben die Renditen zehnjähriger Staatsanleihen erst einmal sechs oder womöglich sieben Prozent erreicht, steigt das Risiko eines Staatsbankrotts steil an, je nachdem wie hoch der absolute Schuldenstand ist und ob die Gläubiger vorwiegend im Inland oder Ausland sitzen. Spanien und Italien sind mittlerweile bei diesem Renditeniveau angekommen. So geht es nicht weiter, so kann es nicht weitergehen.

Der Ausbau der Fiskalunion, die Vergemeinschaftung der Staatsschulden, ist vermutlich das letzte Mittel, mit dem eine Wende gelingen und die Implosion Eurolands verhindert werden kann. Der ehrgeizigen Haushaltskonsolidierung muss ein mindestens ebenso ehrgeiziges Wachstumsprogramm gegenüberstehen. Da die Finanzpolitik dafür nicht in Frage kommt (außer in Deutschland) und die Politik der EZB nicht mehr viel expansiver sein kann als sie schon ist, bleibt als Letztes der Rentenmarkt. Es müsste versucht werden, für Länder wie Italien, Spanien, aber auch Frankreich die Realzinsen am langen Ende der Zinskurve dauerhaft zu senken, am besten auf deutsches oder amerikanisches Niveau. Real sind die Renditen, die der Bund und die US-Treasury zahlen müssen, negativ! Da müssten alle hin.

Wie kann das gelingen? Die EZB könnte verkünden, dass sie für die Anleihen der Länder, die gegenwärtig von den Märkten abgestraft werden, einen (hohen) Preis zu zahlen bereit ist, einen Preis, der Renditen impliziert, die nur wenig über den deutschen liegen. Das würde gleichzeitig einen Boom am Markt für Unternehmensanleihen auslösen. Ein wirksameres Konjunkturprogramm ist kaum denkbar. An Mitteln fehlt es der EZB nicht. Gleichzeitig sind die Inflationsrisiken angesichts der Output-Lücken gering und im Zweifel auch beherrschbar.

Dennoch ist das keine gute Strategie, denn es fehlt der Zwang, dass im Gegenzug tatsächlich Haushaltsdisziplin geübt wird. Die EZB kann das nicht durchsetzen, ebenso wenig wie etwa die Fed mit dem Staat Kalifornien vereinbaren kann, dass sie seine Anleihen bevorzugt aufkaufen würde, wenn dessen Schuldenberg endlich einmal glaubhaft abgetragen würde. Die EZB hat zwar in den vergangenen Monaten am Sekundärmarkt massiv Anleihen von Griechenland und Italien angekauft, die Marktteilnehmer haben sich aber nicht davon beeindrucken lassen. Es gab das „quid“ der EZB, es fehlte aber das „pro quo“ in Form verbindlicher Zusagen beim Abbau der Budgetdefizite. Das moral hazard-Problem bliebe so groß wie eh und je. Abgesehen davon ist eine solch selektive Ankaufspolitik ordnungspolitisch fragwürdig.

Nein, es bedarf einer Institution, die sowohl über das Zuckerbrot als auch die Peitsche verfügt. Das kann nur so etwas wie eine europäische Schuldenagentur sein, also ein weiter entwickelter EFSF. Er nimmt am freien internationalen Kapitalmarkt Anleihen auf und gibt die Gelder mit nur geringen Zinsaufschlägen an die 17 Mitgliedsländer weiter, je nach Bedarf. Es wäre darauf zu achten, dass der EFSF sein dreifach-A-Rating behält. Die 17 Staaten stellen ihrerseits die Emission eigener Anleihen ein. Die EZB würde so viele der EFSF-Anleihen kaufen, wie sie es im Hinblick auf den angestrebten langfristigen Zins und ihr Inflationsmandat für nötig hält, und würde damit zu einem echten lender of last resort werden, wie die Fed, die Bank of Japan oder die Bank of England gegenüber ihren Regierungen und den jeweiligen Bankensystemen. Dass sich die Bilanz der EZB dabei möglicherweise noch einmal gewaltig verlängert, wäre hinzunehmen. Das ist die „Zuckerbrot“-Seite der Strategie.

Die „Peitsche“ besteht darin, dass der EFSF die Funktion eines europäischen Budgetkommissars übertragen bekommt. Er kann so lange die Haushaltspolitik einzelner Länder bestimmen, bis sie für die Stabilität der Währungsunion keine Gefahr mehr darstellt. Das entspricht den holländischen Vorstellungen. Eine verfassungsmäßige Schuldenbremse in allen Mitgliedsländern wäre dabei tendenziell hilfreich, aber nicht von entscheidender Bedeutung, ebenso wie das Verbot von Dumping-Steuern à la Irland. Der springende Punkt ist, dass sich alle an die Standards halten müssen, die der EFSF setzt – sonst gibt es kein billiges Geld.

Das alles geht wohl nicht von heute auf morgen. Vermutlich ist selbst in dieser ständig eskalierenden Krisensituation ein schrittweises Vorgehen angebracht. Wichtig ist jedoch, dass es keinen Zweifel daran geben darf, wohin die Reise geht. Was hier vorgeschlagen wird, ist insgesamt eine glaubwürdige Strategie, und im Grunde die einzig verbliebene. Die Politik würde darüber hinaus endlich einmal den Spieß umdrehen, das Heft wieder in die Hand nehmen und sich nicht mehr von den Märkten durchs Dorf treiben lassen.

Es kann aber nicht genug betont werden, dass es nicht einfach darum gehen darf, ohne Auflagen billiges Geld zu verteilen, auch wenn das aus heutiger opportunistischer Sicht nicht schlecht für die Konjunktur wäre.

Zentral für die Akzeptanz eines solchen Plans gerade in Deutschland, dem wirtschaftlich größten Land der Union und dem mit Abstand wichtigsten derzeitigen Garantiegeber, ist es, dass das Ziel, eine Fiskalunion mit strenger Haushaltsdisziplin zu verwirklichen, ein für allemal festgeschrieben wird. Darauf muss die deutsche Regierung bestehen, bevor sie sich auf neue Garantien für andere einlässt, auch wenn die Zeit drängt.

Sollte es zu dieser europäischen Fiskalunion kommen, wird auch der Bund, und durch ihn der deutsche Steuerzahler, keine höheren Zinsen zu zahlen haben als heute. Der Euro würde sich wieder festigen und für die Zentralbanken der Welt ein wichtigeres Anlagemedium werden – gerade gibt es so etwas wie eine Flucht in den Dollar, obwohl die Situation Eurolands deutlich besser ist, wenn man allein auf die aggregierten Daten für die Leistungsbilanzen und die Budgetsalden schaut. Der dann außergewöhnlich liquide europäische Rentenmarkt (mit dem dominierenden EFSF im Zentrum) würde zu mindestens so niedrigen langfristigen Realzinsen wie in den USA führen und auf diese Weise entscheidend zum Wachstum des Kapitalstocks und des Wohlstands beitragen. Eine Utopie? Sicher!