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Deutschland wird immer exportlastiger

 

Die eigentlich interessanten Informationen, die in dem heute veröffentlichten gesamtwirtschaftlichen Zahlenwerk für das vierte Quartal stecken, sind nicht die Zuwachsraten des realen BIP – minus 0,2 Prozent gegenüber dem dritten Quartal, und für 2011 insgesamt plus 3,0 Prozent gegenüber dem Vorjahr –, sondern die diversen Strukturzahlen. Einige Beobachtungen:

1. Eine Hauptbotschaft ist, dass die Wirtschaft immer exportlastiger wird. Im vierten Quartal 1999, also vor zwölf Jahren, machten die Exporte (von Gütern und Dienstleistungen) nur 30,4 Prozent des BIP aus, inzwischen hat sich der Anteil auf 50,6 Prozent erhöht. Das zeigt vor allem zweierlei: Die internationale Arbeitsteilung wird immer intensiver; das nominale BIP ist in diesem Zeitraum im Durchschnitt jährlich um 2,1 Prozent gestiegen, die Exporte dagegen mehr als dreimal rascher (6,5%). Zum anderen wird Deutschland relativ zur Weltwirtschaft ein immer kleineres Land – je kleiner ein Land, desto mehr ist es vom Ausland abhängig.

Grafik: Exportquoten ausgewählter IndustrieLänder 1991-2011

2. Aber auch die Importe nehmen überproportional zu: 1999 machten sie 29,7 Prozent der inländischen Verwendung aus, im vergangenen Quartal dagegen 48,0 Prozent. Die Tendenz scheint ungebrochen. Unsere Wirtschaft hängt immer mehr vom Ausland ab, aber das Ausland hängt auch immer mehr von uns ab, vor allem die Nachbarländer. Die Wucht der Integration hätte über kurz oder lang auf alle Fälle eine Währungsunion erzwungen, zumindest einen Festkursverbund. Das wird auch in Schweden, Dänemark und der Schweiz zunehmend so gesehen. Es gibt keine Alternative. Es geht nur darum, das Beste daraus zu machen.

3. Die Ausgaben für Ausrüstungen, eine Schlüsselkomponente für unseren künftigen Wohlstand, haben in den vergangenen vier Quartalen real um 3,1 Prozent zugenommen, verglichen mit der Zuwachsrate des realen BIP von 2,0 Prozent (gg. dem 4. Quartal 2010). Das ist eigentlich nicht genug für diese Phase im Konjunkturzyklus: Noch immer lagen die Ausrüstungen um 8,6 Prozent unter dem Höchststand von Ende 2007, und die Quote Ausrüstungen zu BIP ist von 7,9 Prozent Ende 1999 auf zuletzt 7,1 Prozent zurückgegangen.

4. Dazu passt, dass die Produktivität, definiert als reales BIP je Erwerbstätigenstunde, seit dem vierten Quartal 2007 im Jahresdurchschnitt um 0,3 Prozent gesunken ist – in den zwölf Jahren zuvor gab es eine durchschnittliche Zuwachsrate von plus 1,8 Prozent. Das ist trotzdem nicht so richtig plausibel – es sieht danach aus, als ob die Unternehmen seit einiger Zeit den Arbeitseinsatz erhöhen, obwohl die Produktion eher stagniert. Sie horten Arbeit. Möglicherweise zeigt das auch nur, dass sie außerordentlich optimistisch sind, was ihre künftigen Marktchancen angeht. An fehlenden Arbeitskräften wollen sie es nicht scheitern lassen, wenn die Expansion in die nächste Runde geht.

5. An den Gewinnen kann es nicht liegen, dass sich die Ausrüstungen nicht dynamischer entwickeln. Seit dem Tiefpunkt Ende 2009 haben „Betriebsüberschuss und Selbständigeneinkommen“ um 12 Prozent zugelegt und damit fast wieder den Rekordwert vom dritten Quartal 2008 erreicht. Weil so wenig investiert wird, sind die Unternehmen offenbar sehr liquide. Sie könnten, aber sie wollen nicht so recht. Aber warum horten sie Arbeitskräfte? Insgesamt braucht man sich um die finanzielle Gesundheit des produzierenden Sektors keine Sorgen zu machen. Er könnte übrigens ohne Probleme höhere Lohnabschlüsse verkraften.

6. Um etwas abzuschweifen: Sorgen muss man sich nach wie vor jedoch um den Finanzsektor machen: Wenn man sich ansieht, wie weit der Marktwert der Banken unter ihrem Buchwert liegt, könnte einem angst und bange werden. Die Differenz steht für den vermuteten Abschreibungsbedarf. Selbst bei der „gesunden“ Deutschen Bank beträgt sie mehr als 24 Milliarden Euro.

7. Wegen der schwächelnden Produktivität und der neuerdings etwas rascher steigenden Löhne haben die Lohnstückkosten (die Lohnkosten je Produkteinheit) zuletzt etwas kräftiger angezogen und übertrafen im vergangenen Quartal ihren Vorjahreswert um 2,4 Prozent. Das braucht nicht zu beunruhigen: Auf Dauer haben sie sich immer als sehr stabil erwiesen. Es handelt sich auch bei ihnen um eine Art Strukturkonstante. In den vergangenen 16 Jahren sind sie im Durchschnitt nur um 0,4 Prozent gestiegen! Am besten wäre es, wenn sie als Folge eines neuen Investitionsbooms wieder sinken würden – danach aber sieht es leider erst einmal nicht aus. Investitionen reagieren bekanntlich überproportional auf eine Abkühlung der Konjunktur. Und in einer solchen Phase stecken wir heute.

8. Da die Lohnkosten etwa zwei Drittel der gesamtwirtschaftlichen Kosten ausmachen – der Rest entfällt zu etwa gleichen Teilen auf Kapitalkosten und Importe – gibt es in Deutschland von der Kostenseite her de facto keine Inflationsrisiken. Das breiteste Inflationsmaß, der Preisindex des Bruttoinlandsprodukts, lag im vierten Quartal um 1,0 Prozent über seinem Vorjahreswert und hatte sich damit in den letzten 15 Jahren durchschnittlich nur um 0,7 Prozent erhöht. Das ist weit unter dem Inflationsziel, das die EZB bei den Verbraucherpreisen anstrebt.

Insgesamt ergibt sich ein Bild robuster Gesundheit und beherrschbarer Risiken, vor allem wenn man Vergleiche mit anderen großen Industrieländern wie Italien, Frankreich, Großbritannien und den USA anstellt. Unser Land hat Reserven und daher einiges an ungenutztem Potenzial. Eine vorausschauende Wirtschaftspolitik könnte das nutzen.