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Struktureller Haushaltsüberschuss von fast 4 Prozent

 

Es ist keineswegs so, dass Deutschland ein strukturelles Haushaltsdefizit hat, das in den nächsten Jahren unbedingt abgebaut werden muss. Es kommt darauf an, wie man rechnet. Ich komme auf der Basis plausibler Annahmen zum gegenteiligen Schluss: Wir haben in Wirklichkeit einen hohen strukturellen Überschuss.

Achim Truger und Henner Will vom gewerkschaftsnahen IMK, dem Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung, haben in einer sorgfältigen Studie mit dem Titel „Gestaltungsanfällig und pro-zyklisch: Die deutsche Schuldenbremse in der Detailanalyse“ gezeigt, dass die Berechnung des strukturellen Defizits der öffentlichen Haushalte de facto vollkommen beliebig ist. Das meine ich auch. Wir sollten noch mal hinterfragen, wie groß der Konsolidierungsbedarf wirklich ist. Der hängt entscheidend von der Berechnung der Lücke zwischen tatsächlichem und potenziellem BIP ab, der sogenannten Outputlücke. Konjunkturbereinigt, also strukturell, darf das Defizit der öffentlichen Hand nicht mehr als 0,35 Prozent des Produktionspotenzials betragen. So wird die Schuldenbremse definiert.

Wenn die Outputlücke größer ist als gedacht, braucht die Finanzpolitik nicht so restriktiv ausgerichtet zu sein. Nach meinen Berechnungen gibt es im Falle Deutschlands und einiger anderer nordeuropäischer Länder sogar Spielraum für eine expansive Strategie. Da die Schuldenbremse nunmehr in weiteren 24 Staaten der Europäischen Union eingeführt werden soll, besteht die Gefahr, dass es insgesamt zu einer pro-zyklischen, die Rezession verstärkenden Politik kommt, wenn man den gängigen Berechnungen des strukturellen Defizits folgt.

Niemand weiß aber, wie groß das Produktionspotenzial wirklich ist. Bundesregierung und Europäische Kommission schlagen verschiedene, de facto Dutzende, Verfahren vor, die für Deutschland allesamt darauf hinauslaufen, dass das strukturelle Defizit zur Zeit mehr oder minder deutlich größer ist als die angestrebten 0,35 Prozent. Die Schlussfolgerung lautet daher stets: Auch wenn das staatliche Defizit 2011 nur ein Prozent des BIP betrug, ist der Konsolidierungsprozess noch keineswegs abgeschlossen. Es muss weiter gespart werden. In den meisten anderen, den noch „disziplinloseren“, Partnerländern sind die strukturellen Defizite sogar viel größer als das deutsche und erfordern daher, mitten in der Eurokrise, weitere Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen.

Ich bin dagegen nicht erst seit heute der Ansicht, dass Deutschland in Wirklichkeit einen beträchtlichen strukturellen Haushaltsüberschuss hat, der durch eine expansive Finanzpolitik vermindert werden sollte – wenn das Ziel eines Defizits von 0,35 Prozent auch dann gilt, wenn bereits Überschüsse erwirtschaftet werden. Es gibt kein Defizit, das abgebaut werden müsste.

Das Produktionspotenzial (PP) kann am besten durch eine Extrapolation des Trends ermittelt werden, der in einer logarithmischen Skala durch die beiden letzten zyklischen Hochs des realen BIP gelegt wird. In Deutschland reicht der Stützbereich des Trends vom ersten Quartal 2001 bis zum ersten Quartal 2008. Der saisonbereinigte Indexwert liegt im Ausgangspunkt bei 98,71, im Endpunkt bei 109,23. Das ergibt eine jährliche Zuwachsrate von 1,46 Prozent für den Trend des PP. Wenn man im Übrigen den Stützbereich bis 1992 ausdehnt, ändert sich erstaunlicherweise nichts am Trendwert von knapp 1,5 Prozent.

Grafik: Reales BIP und Produktionspotenzial Deutschlands

Dass diese Wachstumsrate zumindest für einige Jahre extrapoliert werden kann, zeigt sich schon daran, dass die Arbeitslosenquote selbst im starken ersten Quartal 2008 bei 7,9 Prozent lag: Es gab damals am Arbeitsmarkt noch bedeutende Kapazitätsreserven. Inzwischen ist die Arbeitslosenquote auf 6,8 Prozent zurückgegangen. Auch der rapide Anstieg der Beschäftigung seit dem letzten zyklischen Hoch, dem ersten Quartal 2008 – um jahresdurchschnittlich 0,7 Prozent – zeigt, dass ein Potenzialwachstum von 1,46 Prozent eher zu bescheiden als zu ehrgeizig sein dürfte. Nicht zuletzt sorgen technischer Fortschritt, internationale Arbeitsteilung, Prozessoptimierung und die Zunahme der Kapitalintensität in der Produktion dafür, dass die Produktivität von Kapital und Arbeit ständig zunimmt. Das Wachstum des Produktionspotenzials ist die gewichtete Summe aus der Veränderung des potenziellen Faktoreinsatzes (Kapital und Arbeit) und der Faktorproduktivität, um das mal technisch auszudrücken. Beide Komponenten steigen im Trend.

Im vierten Quartal 2011 lag der Indexwert des deutschen realen BIP bei 109,77. Wenn ich unterstelle, dass das Potenzial seit dem ersten Quartal 2008 um 1,46 Prozent jährlich gewachsen ist, wie in den sieben Jahren zuvor, lag es Ende 2011, also nach 3,75 Jahren, bei 115,32 (das ist das Produkt von 109,23 und 1,0146 hoch 3,75 Jahre). Der Bruch „Index des aktuellen realen BIP“ (109,77) zum Potenzial (115,32) ergibt eine Outputlücke von 4,81 Prozent (des PP).

Da das staatliche Defizit 2011 bei etwas weniger als einem Prozent des PP lag, betrug der strukturelle Budgetüberschuss nach obiger Rechnung gegen Jahresende 3,81 Prozent des PP, wenn man wie üblich davon ausgeht, dass das aktuelle Defizit gleich der Summe aus konjunkturellem und strukturellem Defizit ist. Die konjunkturelle Komponente entspricht nach meiner Definition der Outputlücke (von 4,81 Prozent). Um auf ein Gesamtdefizit von knapp einem Prozent zu kommen, bedarf es – als Restgröße – also eines strukturellen Haushaltsüberschusses von 3,81 Prozent.

Es gibt demnach kein Strukturdefizit, das abgebaut werden müsste. Es geht vielmehr darum, einen strukturellen Überschuss abzubauen! Deutschland hat einen erheblichen Spielraum für eine expansivere, am besten auf die Steigerung des öffentlichen Kapitalstocks und Wachstum ausgerichtete Finanzpolitik. Da dadurch die deutschen Einfuhren aus den Nachbarländern stark zunehmen würden, ließe sich die Eurokrise entscheidend abmildern. Die anderen könnten mehr exportieren – ihr Schuldendienst fiele ihnen entsprechend leichter. Die deutschen Steuerzahler wiederum brauchten nicht so viel Angst um ihre „schwebenden“ Forderungen gegenüber Griechenland, Portugal, Irland, Spanien und Italien zu haben. Staatsschuldenkrisen lassen sich durch nichts so gut überwinden wie durch Wachstum.

So könnte es sein, so ist es aber nicht: Statt unsere Outputlücke zu schließen, zwingen wir allein die anderen Länder, aktiv zu werden, nämlich sich zu Tode zu sparen. Deutschland muss ebenfalls seinen Beitrag leisten, über die Gewährung von Krediten und Garantien hinaus.

Wir sollten die gängigen Berechnungen der strukturellen Defizite nicht unbesehen akzeptieren. In der Wirtschaftspolitik darf man sich nicht zu sehr auf Technokraten verlassen. Ihre Erkenntnisse sind in der Regel nur so gut wie die Annahmen, die sie in ihre Modelle stecken.