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Bald 20 Millionen Arbeitslose

 

Der Anstieg der Arbeitslosigkeit von 11,5 Millionen Personen zu Beginn der Finanzkrise auf jetzt über 17 Millionen, also innerhalb von nur etwas mehr als vier Jahren, ist höchst beunruhigend und wirft die Frage auf, für was denn die Währungsunion gut sein soll, hat sie doch in vielen Mitgliedsländern mitten in der Krise Lohnkürzungen und eine pro-zyklische Finanzpolitik erzwungen. Vor allem die Jugendlichen bleiben auf der Strecke. Das darf nicht so weitergehen, sonst gibt es ein Glaubwürdigkeitsproblem, sonst wird aus der Währungsunion eine Arbeitslosenunion. Es wäre das Ende des Euro.

Grafik: Arbeitslosigkeit in der EWU 1995-201202

Die EU-Kommission schätzt, dass das reale Sozialprodukt des Euroraums in diesem Jahr im Durchschnitt um 0,3 Prozent unter dem Wert von 2011 liegen dürfte. Auch in einer milden Rezession wie dieser nimmt in der Regel die Arbeitslosigkeit zu, weil die Unternehmen angesichts der mehr oder weniger unaufhaltsamen Produktivitätsfortschritte mit einer kleineren Belegschaft auskommen. Solange die Outputlücke im Verlauf der Rezession größer wird, wonach es für’s Erste aussieht, gibt es kaum Hoffnung auf eine Trendumkehr am europäischen Arbeitsmarkt. Inzwischen ist nicht mehr auszuschließen, dass demnächst 20 Millionen Arbeitsplätze fehlen werden.

Wir taxieren den Unterschied zwischen dem, was tatsächlich produziert wird, und dem, was bei Vollauslastung produziert werden könnte auf 9,8 Prozent. Unterstellt wird dabei, dass das Potenzialwachstum auch in den Jahren nach 2008 bei 1,9 Prozent lag, wie in dem Zyklus von 2001 bis 2008. Das liegt etwas unterhalb der Zuwachsrate, wie sie die EZB berechnet.

Grafik: EWU BIP und Trend 1995-2012Q4

Übrigens gibt es auch eine ziemlich große globale Outputlücke (von 6,6 Prozent), die vor allem durch das schwache Wachstum in den Industrieländern verursacht wird. Mit tatsächlichen Wechselkursen gerechnet – statt mit Kaufkraftparitäten – wächst das potenzielle reale Sozialprodukt der Welt nach den Statistiken des Internationalen Währungsfonds mittelfristig mit einer Rate von 3,1 Prozent. Zurzeit nimmt das aktuelle reale BIP aber nur mit einer Jahresrate von rund 2,3 Prozent zu, so dass auch im Weltmaßstab zunehmend Ressourcen brach liegen. Europas Wirtschaft kann nicht damit rechnen, dass von den Exporten starke Wachstumsimpulse ausgehen werden.

Grafik: Welt BIP und Trend 1995-2012

Zurück zur Währungsunion: Es spricht Einiges dafür, dass es sich bei dem steilen Anstieg der Arbeitslosigkeit vor allem auch um einen Strukturbruch handelt, nicht nur um ein konjunkturelles Phänomen. Der Bausektor und die Finanzwirtschaft, Branchen, die einst als besonders dynamisch galten, befinden sich in einer radikalen Schrumpfkur und setzen massiv Arbeitskräfte frei. Durch den starken Rückgang der Realzinsen in den Jahren unmittelbar vor der Einführung des Euros und in den acht Jahren danach war es in den Ländern, die bis dahin wegen ihrer schwachen Währungen an viel höhere Realzinsen gewöhnt waren, zu einer Explosion der Kredite an den privaten Sektor gekommen. Geld war in der schönen neuen Welt des Euro auf einmal zu sehr günstigen Konditionen zu haben.

Grafik: Realzinsen 1993-201202

Es kam zu einem Kreditboom, zu einer starken Verschuldung der Haushalte, vor allem aber zu Immobilienblasen. Als die dann platzten, befanden sich plötzlich weite Teile der Bevölkerung sowie sehr viele Banken finanziell unter Wasser. Sie hatten vorher naiverweise daran geglaubt, dass die Preise für Häuser und Wohnungen immer nur steigen konnten und sich entsprechend verschuldet.

Grafik: Kreditexpansion an Private 1998-2008

Die EZB hatte den Kreditboom hingenommen, weil die Inflationsraten nahe oder sogar unterhalb der selbstgesetzten Zielmarke lagen, es also aus ihrer engen Sicht keine Probleme gab. Auch die staatlichen Budgetdefizite bewegten sich bis zum Ausbruch der Krise im Rahmen des Normalen, waren jedenfalls keineswegs besorgniserregend.

Grafik: Budgetdefizite 1995-2011

Insgesamt gab es nichts im kollektiven Gedächtnis der Notenbanker, was sie vor den Gefahren von Vermögenspreisblasen gewarnt hätte. Sie waren in den siebziger und achtziger Jahren durch ihren Kampf gegen die Inflation konditioniert worden und hatten die Möglichkeit einer Liquiditätsfalle verdrängt. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass sich mit ihren Instrumenten eines Tages nichts mehr würde ausrichten lassen, oder dass nicht der Kampf gegen die Inflation, sondern der für die Stabilität des Finanzsystems oberste Priorität haben würde.

Bis zur Krise waren die Bauwirtschaft und die Banken die Boomsektoren schlechthin, nicht nur im Euroraum, sondern auch in den USA und in Großbritannien. Dort stiegen Einkommen und Beschäftigung viele Jahre lang außerordentlich rasch. Als dann auf einmal die Wende kam, erwiesen sich die Qualifikationen, die für einen wirtschaftlichen Erfolg in diesen Branchen wichtig sind, als überflüssig. Die Sektoren waren insgesamt viel zu groß geworden und mussten schrumpfen.

In Deutschland, wo es weder einen starken Rückgang der Realzinsen durch den Euro noch, nicht zuletzt aus diesem Grund, einen Immobilienboom gegeben hatte, kam es nicht zu einem solchen Strukturbruch. Die Arbeitslosigkeit war im Jahr 2009 nur kurz etwas angestiegen und sinkt seitdem wieder.

Probleme gab es allerdings bei den deutschen Banken, die unter dem Druck ihrer Aktionäre und Vorstände auf Renditejagd waren. Weil das Renditeniveau der traditionellen Anlageklassen im Zuge der „Great Moderation“ so stark gesunken war, verfielen sie den Sirenenklängen der Investment Banken und Ratingagenturen und luden sich ihre Bilanzen – oder die ihrer „Special Purpose Vehicles“ in Irland – mit angeblich soliden aber erstaunlicherweise überdurchschnittlich gut verzinsten Immobilienpapieren voll, vorwiegend amerikanischen. Die Bankenaufseher hatten nichts weiter einzuwenden. Am Ende handelte es sich aber um die inzwischen berühmten toxischen Aktiva, die so wertlos waren, dass die Rettung der strauchelnden Banken den deutschen Steuerzahler mehrere hundert Milliarden Euro kostete.

Ein Nebenprodukt des kreditgetriebenen Booms in den heutigen Krisenländern des Euroraums waren die starken Lohnsteigerungen, vor allem im Vergleich zu Deutschland. In ihrer Euphorie nahmen weder die Vertreter der Arbeitnehmer noch der Unternehmen wahr, dass sie in einem Festkurssystem rapide an Wettbewerbsfähigkeit einbüßen, wenn sich die anderen Länder nicht an diesem Spiel beteiligen. Nur durch Produktivitätsgewinne lässt sich dieser Nachteil beseitigen, aber wie relevant sind Produktivitätsfortschritte bei Baufirmen und Banken, wenn es um die Konkurrenz mit ausländischen Anbietern geht?

Dass wir es heute mit 17 Millionen Arbeitslosen zu tun haben, hat außer mit der nach wie vor lahmenden Weltkonjunktur und der pro-zyklischen Finanzpolitik im Euroraum mit zwei Euro-spezifischen Phänomenen in den Krisenländern zu tun: der unhaltbaren Expansion des Finanzsektors und der Bauwirtschaft einerseits sowie dem rapiden Anstieg der relativen Lohnstückkosten andererseits.

Um die Arbeitslosigkeit wieder zu vermindern, muss an allen Fronten etwas geschehen. Am besten wäre es natürlich, wenn es einen starken und nachhaltigen Aufschwung gäbe. Daran ist aber nicht zu denken, solange die Rentenmärkte eine Konsolidierung der Staatsfinanzen und damit immer neue Sparpakete erzwingen. Deutschland hätte die Mittel, konjunkturell so viel zu bewegen, dass es auch den Nachbarländern etwas nutzt. Schließlich gibt es nach meinen Berechnungen einen strukturellen staatlichen Haushaltsüberschuss in der Größenordnung von 3 bis 4 Prozent des BIP. Leider bin ich da allein auf weiter Flur. Das Wort „Konjunkturstimulierung“ steht bei uns ohnehin auf dem Index. Die Mehrheitsmeinung ist: Wenn wir hier Gas geben, lassen die anderen sofort in ihrem Bemühen nach, sich selbst aus dem Sumpf zu ziehen und zu gesunden. Immerhin zeigt sich die Bundesrepublik bei der Ausstattung des Europäischen Stabilitätsmechanismus recht großzügig und solidarisch. Dass das vorwiegend aus Eigeninteresse geschieht, sollte nicht stören.

Es wäre wünschenswert, wenn demnächst einmal auch konzeptionell ein größerer Schritt in Richtung Fiskalunion unternommen würde – das könnte den Weg für eine expansivere gesamteuropäische Finanzpolitik eröffnen, die auch am Arbeitsmarkt Früchte trägt. Schließlich beläuft sich das konsolidierte Haushaltsdefizit der Währungsunion auf „nur“ etwa 4 Prozent des BIP und bietet damit wesentlich mehr Spielraum als etwa die amerikanischen, britischen oder japanischen Staatsdefizite. Unter welchen Bedingungen könnten gemeinsame Eurobonds begeben werden? Wenn sich Italien, Spanien und die anderen zu Konditionen verschulden können, die nicht viel schlechter sind als die deutschen, ließen sich notwendige, aber schmerzhafte Strukturreformen am Arbeitsmarkt und in der Finanzpolitik leichter verkaufen und durchsetzen als das bisher möglich ist. Irgendwann wird es zu solchen Anleihen kommen, ich vermute aber, dass die Eurokrise zuvor noch einmal gefährlich eskalieren muss.

Die Lohnrelationen dürften angesichts der großen Unterschiede in den Arbeitslosenquoten innerhalb des Euroraums nur tendenziell wieder ins Lot gebracht werden – de facto kann es kaum funktionieren, oder es wird sehr lange dauern. Am besten wäre eine ordentliche Abwertung. Das ist aber keine Option mehr. In Deutschland lagen die tariflichen Stundenlöhne im Januar nur um ganze 0,9 Prozent über ihrem Vorjahreswert. Wenn spanische oder italienische Unternehmen angesichts solcher Bescheidenheit und ihrer über viele Jahre relativ stark gestiegenen Lohnstückkosten ihre Wettbewerbsposition verbessern wollen, müssen sie schon ihr Lohnniveau um 30 Prozent senken oder die Produktivität um so viel steigern. Wie soll das gehen?

Grafik: Lohnstueckkosten DE FR IT ES 1995-2011Q4

Ausgeschlossen ist ein solches Lohndumping allerdings keineswegs. Die baltischen Länder haben es vorgemacht. Manchmal ist es besser, eine schlecht bezahlte Arbeit anzunehmen als gar kein Einkommen zu haben. Hartz IV für Spanien? Der andere Ansatz wäre, die Investitionen so zu steigern, dass es zu großen Produktivitätssprüngen kommt und es wieder attraktiv wird, neue Mitarbeiter einzustellen. Dazu können Unternehmen allerdings nicht gezwungen werden. Ohne massive staatliche Anreize wird es nicht gehen. Da aber die Staaten Eurolands Sparen zu ihrer Priorität gemacht haben, bleibt nichts Anderes übrig, als die Struktur von Ausgaben und Einnahmen nachhaltig zugunsten der Investitionsförderung zu verändern. Ein anderer Schwerpunkt sollte auf der beruflichen Wiedereingliederung der Arbeitslosen durch Fortbildung sowie der marktgerechteren Ausbildung der Jugendlichen liegen, Stichwort „duales Ausbildungssystem“.

Wie es letztlich funktionieren wird, ist ungewiss. Der makropolitische Ausweg ist weitgehend versperrt – bis auf die extrem expansive Geldpolitik natürlich, aber da sind die Grenzen wohl inzwischen erreicht. Mikroökonomische Maßnahmen sind hilfreich, brauchen aber ihre Zeit. Viele junge Leute werden inzwischen an Auswanderung denken, einen entscheidenden Beitrag zur Reduzierung der europäischen Arbeitslosigkeit darf man sich davon jedoch aus vielerlei Gründen nicht erwarten. Es gibt noch keine Vereinigten Staaten von Europa.

Letztlich wird es in Ländern wie Spanien, Portugal, Griechenland oder Irland zu einer Verminderung der Nominallöhne kommen. Die Arbeitslosen werden in ihren neuen Jobs zumindest anfangs weniger verdienen als in ihren alten. Dass die Arbeitslosigkeit auf Dauer beim jetzigen, oder möglicherweise bei einem noch höheren Niveau verharren kann, ohne dass es zu sozialen Umwälzungen kommt, ist jedenfalls nicht zu erwarten. Der Handlungsdruck ist enorm.