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Ölpreis vor dem Fall

 

Mit dem Ölpreis ist es wie mit der Inflation: Angesichts des schwachen globalen Wirtschaftswachstums und der hohen Arbeitslosigkeit ist es nicht plausibel, dass sich der Ölpreis zwischen 100 und 110 Dollar je Fass hält, nachdem er in den 15 Jahren bis 2002 bei 20 Dollar gelegen hatte. Genauso ist es kaum nachvollziehbar, warum die Verbraucherpreise in Westeuropa und Nordamerika nicht schon längst nachhaltig sinken, so wie bis vor Kurzem in Japan. Beides hat offenbar mit verschiedenen Rigiditäten an den Märkten zu tun, also mit Strukturen, Mechanismen und Strategien, die das verhindern.

Grafik: Tägl. Rohölpreise "Brent" seit 1987
Tägl. Rohölpreise „Brent“ seit 1987

Während wir uns nicht wünschen können, dass es zu Deflation, einem Rückgang des allgemeinen Preisniveaus kommt – weil das zu steigenden Realzinsen führt –, wäre es aus deutscher und westeuropäischer Sicht nicht schlecht, wenn die Ölpreise auf ein deutlich niedrigeres Niveau fallen würden. Ich denke, dass das demnächst passieren wird. Per Saldo wäre es auch positiv für die Weltwirtschaft insgesamt (wenn auch nicht so gut für die Umwelt).

Auf der Angebotsseite haben die hohen Ölpreise verhältnismäßig teure Produktionsverfahren profitabel gemacht, besonders die Förderung von Schieferöl sowie Tiefseebohrungen. In den USA steigt der Output so stark wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Wenn die Ölpreise da blieben, wo sie sind, wäre der Tag nicht mehr fern, an dem das Land ein Nettoexporteur wird. Da die Preise so hoch sind, wird die Produktion weiter steigen; es zeigt sich, dass es so etwas wie „peak oil“ auf absehbare Zeit nicht geben wird.

Die Ölproduzenten gewöhnen sich rascher an hohe Preise und damit an höhere Einnahmen als sie bis vor wenigen Jahren für möglich gehalten hatten. In Russland hatte die Regierung ihre Ausgaben für 2013 auf der Basis eines durchschnittlichen Ölpreises von 90 Dollar geplant und erzielt daher zur Zeit Überschüsse, die sie dazu verleiten, wichtigen Wählergruppen Geschenke zu machen und bei Großprojekten wie den kommenden Winterspielen in Sotschi nicht so genau auf die Kosten zu achten. Ähnlich in Saudi-Arabien: Noch 2008 reichte eine Ölpreis von etwa 50 Dollar für einen ausgeglichenen Staatshaushalt, heute wird geschätzt, dass er nicht unter 95 Dollar liegen darf. Seit dem Beginn des arabischen Frühlings im Jahr 2011 versuchen die Potentaten im Nahen Osten und Nordafrika soziale Unruhen mit mehr Geld für soziale Zwecke zu verhindern. Um die Preise auf dem jetzigen Niveau zu stabilisieren, haben die Saudis seit neun Monaten ihre Produktion zurückgefahren, so wie sie das schon einmal in den Jahren 1981 bis 1986 getan hatten. Damals war es am Ende zu einem Ölpreiscrash gekommen.

Grafik: Weltweite Produktion und Verbrauch von Rohöl und reales BIP der Welt seit 1980
Weltweite Produktion und Verbrauch von Rohöl und reales BIP der Welt seit 1980

Auf der Nachfrageseite spricht alles dafür, dass das teure Öl und das verlangsamte Wirtschaftswachstum in Westeuropa, den USA und sogar China dazu führen, dass die Zuwachsrate geringer ausfallen wird als beim Angebot. Das reale globale Sozialprodukt dürfte in diesem Jahr nur mit einer Rate von 2,1 Prozent zunehmen, verglichen mit einem Trendwert von etwa drei Prozent (gerechnet mit aktuellen Wechselkursen). Aus dem obigen Schaubild lässt sich, grob geschätzt, die folgende Regel ablesen: Wenn das globale BIP mit seinem Trendwert von drei Prozent zunimmt, steigt der Verbrauch an Erdöl um 1,5 Prozent, sind es jedoch nur rund zwei Prozent, nimmt der Verbrauch kaum noch zu.

Sowohl Unternehmen als auch Haushalte sind gezwungen, angesichts der niedrigen Kapazitätsauslastung und der Arbeitslosigkeit sparsamer zu wirtschaften. Energieeffizienz steht daher ganz oben auf der Prioritätenliste. Das zeigt sich unter anderem daran, dass Haushalte zunehmend auf Autos setzen, die nicht so viel Sprit fressen. Fast überall fördern Regierungen zudem die Abkehr vom Öl dadurch, dass sie erneuerbare Energie subventionieren.

Ich vermute, dass sich die Gesetze des Marktes nur für eine Weile außer Kraft setzen lassen. Steigende Produktion und schwache Nachfrage nach Öl, beides vor allem ausgelöst durch die hohen Preise, werden zu einem Einbruch der Preise führen. Nur ein Krieg im Nahen Osten könnte das verhindern, oder eine wundersame Beschleunigung des globalen Wirtschaftswachstums. Bei Prognosen sollten Volkswirte nach einem alten Spruch vor allem darauf achten, dass sie nicht sowohl den Zeitpunkt als auch den Zielwert nennen. Ich tue es dennoch: In einem Jahr wird der Ölpreis bei 70 Dollar liegen, eher sogar niedriger. Die Preisausschläge sind bei Öl so groß, weil die Grenzkosten der Produktion so niedrig sind. Auf der arabischen Halbinsel betragen sie höchstens zehn Prozent des jetzigen Marktpreises. Es lohnt sich daher aus Produzentensicht, mehr zu fördern, wenn die Preise erst mal ins Rutschen gekommen sind – was den Preisverfall beschleunigt. So zerbrechen Kartelle.

Deutschland importiert netto rund 2,3 Millionen Fass pro Tag, also rund 840 Millionen Fass pro Jahr. Ein Rückgang des Ölpreises um 35 Dollar entspricht demnach einem Kaufkraftgewinn von 29,4 Milliarden Dollar, oder 22,3 Milliarden Euro (beim aktuellen Wechselkurs von 1,32 Dollar/Euro). Das sind etwas mehr als 0,9 Prozent des jährlichen nominalen BIP. Die Gaspreise dürften ebenfalls unter Druck geraten. Ganz Westeuropa, die USA, China und Indien werden auf ähnliche Weise profitieren. Die Zahlen für die USA sind übrigens die Folgenden: Produktion 8,9 Millionen Fass pro Tag, Verbrauch 18,6 Millionen, Saldo 9,7 Millionen. Multipliziert mit 35 Dollar und 365 Tagen ergibt einen nationalen Kaufkraftgewinn von 123,9 Milliarden Dollar. Bezogen auf das nominale BIP von voraussichtlich 16.000 Milliarden Dollar sind das 0,77 Prozent.

Das Ganze wäre nichts anderes als ein massives Konjunkturprogramm, das ohne zusätzliche Staatsschulden und ohne eine noch expansivere Geldpolitik auskommt. Es geht allerdings zulasten der Erdölproduzenten. Diese müssen sich warm anziehen.