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Russland ist weiterhin ein ökonomischer Zwerg

 

In den letzten vier Quartalen (d.h. bis einschließlich dem dritten Quartal 2013) betrug das nominale russische Sozialprodukt 66,6 Billionen Rubel oder, mit dem heutigen Wechselkurs gerechnet, 1,3 Billionen Euro. Das BIP von Deutschland ist 2,1 mal höher, das von Euroland 7,3 mal, und das der Nato-Staaten fast 20 mal. Mit anderen Worten, Russland spielt im Kontext der Weltwirtschaft eine mehr als bescheidene Rolle. Von der Fläche und den Bodenschätzen her gibt es kein größeres Land, aber was den wirtschaftlichen Erfolg angeht, gibt es kaum eins, das aus seinem Potenzial so wenig gemacht hat. Es ist ein äußerst armes Land. Pro Kopf übertrifft das deutsche BIP das russische um das 3,7-fache. Nur weil die Einkommensverteilung so extrem ungleich ist, kann man manchmal im Ausland den Eindruck gewinnen, dass alle Russen furchtbar reich seien – die meisten sind nach wie vor furchtbar arm. Weil das so ist, lenkt die russische Regierung wieder einmal mit Kriegsspielen von ihrem Versagen ab und hofft, damit ihre Existenz zu sichern.

In letzter Zeit ist außerdem das Wachstum der Volkswirtschaft fast zum Stehen gekommen. Auch das könnte ein Grund für die aggressiven nationalistischen Töne aus Moskau sein. Nachdem das reale BIP 2013 noch um 1,3 Prozent zugenommen hatte, sieht es 2014 nur noch nach einer Zuwachsrate von 0,7 Prozent aus. Da nicht zu erwarten ist, dass die Rohstoffpreise – einschließlich der Preise für Rohöl und Gas – weiter steigen werden, halten sich die Unternehmen mit Investitionen zurück. Gleichzeitig sind die Haushalte ziemlich verschuldet und kommen nicht mehr so leicht an neue Kredite. Es würde nicht überraschen, wenn die Arbeitslosigkeit zunehmen und die Reallöhne sinken würden.

Ein großes Problem Russlands besteht darin, dass die Warenexporte (von zuletzt 380 Milliarden Euro pro Jahr) vorwiegend aus Öl, Gas, Metallen und einfachen Zwischenprodukten bestehen (mehr als 80 Prozent). Die im historischen Vergleich immer noch sehr hohen Rohstoffpreise haben dazu geführt, dass es bisher keinen Anreiz gab, alternative Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln. International bekannte Marken und Produkte außerhalb des Rohstoffsektors gibt es nicht. Es ist wie zu Zeiten der Zaren. Immerhin kam es im vergangenen Jahrzehnt, anders als im Jahrzehnt davor, im Gefolge der Rohstoffhausse nicht zu einem zweiten Importboom, sodass im Außenhandel gewaltige Überschüsse entstanden (130 Milliarden Euro waren es im vergangenen Jahr). Vor allem bei den langlebigen Konsumgütern war der allergrößte Nachholbedarf offenbar bereits gedeckt.

Im Übrigen weist Russland einige andere eindrucksvolle Fundamentaldaten auf: In diesem Jahr wird der Haushalt der Zentralregierung einen kleinen Überschuss aufweisen, weil die Einnahmen in Rubel nach dessen Abwertung stark gestiegen sind (die Ausfuhren der Rohstoffproduzenten lauten meist auf Dollar, sodass deren Rubelerträge und damit die Staatseinnahmen entsprechend zunehmen); die Staatsschulden machen weniger als 20 Prozent des Sozialprodukts aus; die Währungsreserven bewegen sich unverändert bei 500 Milliarden Dollar und die Realzinsen liegen über das gesamte Laufzeitenspektrum hinweg bei rund zwei Prozent (In den reichen Ländern des Westens sind sie meist negativ).

Der Außenwert des Rubel war daher lange Zeit sehr stabil. Seit Mai vergangenen Jahres hat sich die Stimmung aber gedreht. Auslöser war das laute Nachdenken der Fed-Direktoren über den allmählichen Ausstieg aus dem Ankaufprogramm von amerikanischen Staatsanleihen: Netto beliefen sie sich bis dahin auf sechs Prozent des Sozialprodukts. Die amerikanische Wirtschaft hatte Fahrt aufgenommen und war nicht mehr so sehr auf eine expansive Geldpolitik angewiesen. Allein das reichte, die Währungen der meisten Schwellenländer unter Druck zu setzen. Es war angesichts des drohenden Zinsanstiegs riskant geworden, sich so wie bisher am Dollar-Geldmarkt zu verschulden und die Mittel in Brasilien, Indien, Russland, China, Indonesien oder der Türkei anzulegen. Kapital wurde aus diesen Ländern abgezogen. Trotz der eindrucksvollen russischen Fundamentaldaten hat sich der Rubel gegenüber dem Euro denn auch von Mai bis heute um nicht weniger als 24 Prozent abgewertet – zuletzt hatte das ukrainische Abenteuer die Abwertung noch einmal deutlich beschleunigt.

Grafik: Rubel/Euro-Wechselkurs und RTSI-Aktienindex, tägl. seit 2010

Die Europäer können gegenüber Russland selbstbewusst auftreten. Die russischen Kapitalanlagen im Westen übertreffen die europäischen Kapitalanlagen in Russland deutlich. Seit vielen Jahren ist es netto zu russischen Kapitalexporten in der Größenordnung von 50 Milliarden Euro pro Jahr gekommen (das entspricht den Überschüssen in der Leistungsbilanz) – gelegentlich hat das den Charakter von Kapitalflucht angenommen. Nicht nur aus diesem Grund kann die Europäische Union einen Wirtschaftskrieg besser verkraften als Russland, wenn es am Ende hart auf hart kommen sollte. Die EU hat die viel größere und vor allem viel flexiblere Volkswirtschaft.

Die Ereignisse der vergangenen Wochen haben zudem Eines klar gemacht: Die Abhängigkeit von russischem Öl und Gas muss vermindert werden. Die Energiewende sollte daher energischer vorangetrieben werden, als die neue Regierung in Berlin das bisher plant.