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Was passiert, wenn der Ölpreis dauerhaft niedrig bleibt

 

In den vergangenen Monaten sind die Prognosen für den Ölpreis deutlich nach unten revidiert worden. Davon, dass er nur steigen kann, weil die Welt in der Nähe von peak oil sei (also an ihrer physischen Grenze), ist nicht mehr die Rede. Vor allem Revolutionen auf der Produktionsseite – Fracking, Ausbeutung von Ölsänden, horizontale und Tiefseebohrungen – haben das bewirkt. Aber auch auf der Nachfrageseite hat sich viel getan: Die Energieeffizienz beim Heizen von Gebäuden und im Verkehr nimmt rasant zu, alternative Energien spielen eine zunehmend wichtige Rolle. Der Druck auf die Politik steigt, das Verbrennen von klimaschädlichen fossilen Brennstoffen zu reduzieren. Hinzu kommt, dass die Zuwachsrate des globalen BIP nicht mehr so hoch ist wie vor der großen Rezession, vor allem weil China auf einen niedrigeren Expansionspfad eingeschwenkt ist und weil in den kapitalreichen und alternden Ländern der OECD nur noch moderate Wachstumsraten erzielt werden. Die Annahme, dass der Ölpreis niedrig bleiben wird, ist daher ziemlich gut zu begründen. Die Folgen für uns und die Welt sind tiefgreifend, aber das ist im öffentlichen Bewusstsein noch nicht angekommen.

Wir reden hier über richtig große Zahlen: Wenn sich die Ölpreise beim heutigen Niveau stabilisieren sollten, vermindern sich die Ausgaben der Konsumenten gegenüber den zwölf Monaten bis Juni 2014 von 3.500 auf jährlich 1.900 Milliarden Dollar, um etwa so viel wie die Einnahmen der Ölproduzenten, wenn man mal annimmt, dass sich am Produktionsvolumen nichts ändert. Um das ins rechte Licht zu rücken: Das BIP der Bundesrepublik dürfte 2015 beim jetzigen Wechselkurs 3.270 Mrd. Dollar erreichen, das der gesamten Weltwirtschaft laut Internationalem Währungsfonds rund 81.500 Mrd. Dollar.

Grafik: Bruttoeinnahmen aus der Ölproduktion, 1980-2015

Da Erdöl nur eine Komponente im internationalen Energiemix ist, neben Gas, Kohle, Atomstrom und Erneuerbaren, deren Preise aber entscheidend beeinflusst, dürften auch diese Energieträger dauerhaft billiger werden, sodass die gesamten Ausgaben (und Einnahmen) für Energie in Zukunft jährlich um mindestens 3.000 Mrd. Dollar niedriger sein werden als 2014.

Grafik: Globaler Primärenergieverbrauch, 1965-2013

Die kurzfristigen Folgen dieses Preiseinbruchs liegen auf der Hand – sie sind erfreulich für die Verbraucher von Energie, deren Kaufkraft wegen des Rückgangs der Inflationsraten stark steigt, aber negativ für die produzierenden Länder, in denen der Wegfall von Einnahmen die Endnachfrage dämpft und, je nach der Bedeutung der Energieerzeugung für das Land, eine Rezession auslösen kann, so wie zurzeit in Russland oder Venezuela. In Deutschland und den übrigen Ländern der Währungsunion, die zu den größten Nettoimporteuren von Energie gehören, gehen für eine Weile die Inflationsraten zurück, während die Konjunktur einen Schub bekommt. Zudem ist mit niedrigeren Arbeitslosenzahlen und geringeren staatlichen Haushaltsdefiziten zu rechnen.

Die Energieproduzenten schenken den Energieverbrauchern gewissermaßen ein massives Konjunkturprogramm, das wegen der riesigen Outputlücken, der hohen Arbeitslosigkeit und der moderaten Lohnsteigerungen erfreulicherweise keine wirtschaftspolitischen Gegenmaßnahmen erfordert. Weil die Inflation niedrig bleibt, sind weder höhere Zinsen noch eine restriktivere Finanzpolitik angebracht. Vermutlich müssen die Wachstumsprognosen für die Nettoimporteure von Energie in den kommenden Monaten daher nach oben revidiert werden.

Längerfristig sieht die Sache aber selbst in diesen Ländern nicht nur positiv aus. Der Energieverbrauch dürfte wieder kräftiger zunehmen, weil die Leute wieder mehr fahren und fliegen werden, von Bus und Bahn auf ihre Autos umsteigen, nicht mehr so auf die Heizkosten achten, fotovoltaische Anlagen auf ihren Dächern finanziell nicht mehr so attraktiv finden, und so weiter. Für die Umwelt sind das schlechte Aussichten, ebenso wie für die „grüne“ Industrie, die sich bisher darauf verlassen hatte, dass fossile Energie teuer bleiben würde. Der Strukturwandel geht in die andere Richtung.

Um zu verhindern, dass es hier zu Investitionsruinen kommt, sollte der Staat die Steuern auf den Energieverbrauch so erhöhen, dass die Preise für die Konsumenten nicht niedriger sind als vor dem Einbruch der Ölpreise. Im Gegenzug könnte die Mehrwertsteuer kräftig gesenkt werden, sodass die staatlichen Einnahmen per Saldo gleich blieben. Von einer solchen aufkommensneutralen Strategie ist leider noch nichts zu erkennen: Die Politiker erwarten bisher noch nicht, dass das Überangebot an Energie – und damit die niedrigen Preise – von Dauer sein werden. Selbst die Marktteilnehmer gehen davon aus, dass sich Erdöl eher verteuern als verbilligen wird: Sie erwarten, dass der Preis innerhalb der nächsten zwölf Monate um etwa zehn Prozent steigen wird (gemessen an den aktuellen Terminkontrakten).

Bei vielen Produzenten fossiler Brennstoffe sind Investitionsruinen allerdings so sicher wie das Amen in der Kirche. Wer gedacht hatte, dass der Ölpreis nicht nur nie mehr unter 90 oder 100 Dollar fallen, sondern tendenziell immer weiter steigen würde und daraufhin Förderkapazitäten aufgebaut hatte, bei denen die (Grenz-)Kosten der Produktion in dieser Größenordnung liegen, wird nicht umhin kommen, diese Anlagen abzuschreiben. Im vergangenen Jahrzehnt betrugen nach Angaben von Merrill Lynch die Ausgaben der Ölindustrie für Kapazitäten zur Förderung und Verarbeitung und zum Transport von Erdöl nicht weniger als rund 700 Mrd. Dollar jährlich. Ein gewaltiger Kapitalstock wurde geschaffen, der beim neuen Preisniveau des Öls wirtschaftlich nichts mehr bringt.

Abschreibungsbedarf besteht auch für alle bilanzierten Erdölreserven in Lagerstätten, die sich nur mit großem Kostenaufwand ausbeuten lassen. Die Carbon Bubble, die sich in den vergangenen Jahrzehnten gebildet hatte, platzt gerade. Dass es noch nicht zu größeren Konkursen und einer globalen Rezession gekommen ist, ist vermutlich der Tatsache zu verdanken, dass die Ölfirmen wegen ihres lange Zeit sehr üppigen Cash Flows nur relativ gering verschuldet sind. Ein Platzen von Blasen ist nur dann gefährlich, wenn die Kurse zuvor durch einen Verschuldungsboom in die Höhe getrieben wurden. Wir stehen aber, wie die Übernahme der Gasfirma BG Group durch Shell für nicht weniger als 70 Mrd. Dollar zeigt, vor einer gigantischen Fusionswelle in der Energieindustrie. Die Aktienkurse der Förderer und Verarbeiter von Energie sind seit fast einem Jahr stark unter Druck, ebenso wie Tesla, der kalifornische Hersteller von Elektroautos. Andererseits zählen traditionelle Autohersteller (VW, Renault) zu den Gewinnern, ebenso wie die Chemieindustrie, die billiger an ihren wichtigsten Rohstoff kommt. Die neuen Ölpreise verändern auf Dauer die Bewertung von Unternehmen, also ihre relative Marktkapitalisierung.

So wie eine höhere Mehrwertsteuer einen regressiven Effekt auf die Kaufkraft der ärmeren Leute hat, sie also benachteiligt gegenüber den Reichen, die nur einen geringen Teil ihres Einkommens für den Konsum benötigen, so hat ein Preisrückgang bei einem wichtigen Gut des täglichen Bedarfs wie dem Erdöl und seinen Substituten einen progressiven Effekt. Die Unterschiede in der Kaufkraft der Haushalte ebnen sich tendenziell ein.

Tendenziell wird es bei den Energieimporteuren zudem zu geringeren Defiziten beziehungsweise größeren Überschüssen in ihren Handelsbilanzen kommen, wodurch sich die Gleichgewichtswechselkurse auf einem höheren Niveau einpendeln werden – wenn es so etwas wie Gleichgewichtswechselkurse überhaupt gibt. Es geht natürlich nur um die Wechselkurse gegenüber den Währungen der Ölexportländer.

Für Deutschland und ähnlich strukturierte Länder verringert sich der Anteil Energieimporte an den Gesamtimporten. Hierzulande lag er 2014 nach Angaben der Bundesbank bei 12,9 Prozent – ich schätze, dass er in diesem Jahr auf acht oder neun Prozent sinken wird, was allerdings nicht heißt, dass sich die realwirtschaftliche Abhängigkeit von diesen Einfuhren vermindert hätte. Energie bleibt ein zentrales Element der gesamtwirtschaftlichen Produktionsfunktion.

Die Ölexporteure sind die Hauptleidtragenden der niedrigeren Ölpreise. Das, was die Ölimporteure gewinnen, nämlich jährlich Tausende Milliarden Dollar, verlieren die Exporteure an Einnahmen und Lebensstandard. Vielfach trifft es keine Armen so wie die arabischen Länder am Persischen Golf, aber für ärmere Länder wie Indonesien, Algerien, Nigeria, Iran, Irak, Russland, Mexiko oder Brasilien sind harte Zeiten angebrochen: Die Inflation steigt, die Währungen werten ab, die Auslandsschulden lassen sich nur mit Mühe bedienen.

Es wird diesen Ländern gerade drastisch vor Augen geführt, dass sie sich unbedingt aus ihrer Abhängigkeit vom Auf und Ab der Ölpreise emanzipieren müssen. Ihre Wirtschaft muss auf eine breitere Basis gestellt werden, ebenso wie die staatlichen Einnahmen, die Infrastruktur und die Qualifikation ihrer heutigen und künftigen Erwerbstätigen deutlich verbessert werden müssen, und sie müssen alles tun, damit es zu größeren Kapitalimporten kommt – diese gehen meist einher mit Technologieimporten. Wenn die Politiker dieser Länder das auch so sehen und entsprechend reagieren, dann hat der Einbruch der Ölpreise am Ende auch für sie Gutes bewirkt.