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Von der angeblich unvermeidbaren Stagnation der Produktivität

 

In Deutschland und in den meisten anderen Industrieländern ist die Produktivität, das reale BIP pro Arbeitsstunde oder pro Erwerbstätigem in den Jahren seit der großen Rezession nur sehr langsam vorangekommen, was nichts Anderes bedeutet, als dass der Spielraum für einen höheren Lebensstandard nur entsprechend langsam gestiegen ist. Das Schlagwort von der secular stagnation macht die Runde; der Internationale Währungsfonds hat in der vergangenen Woche in Florenz zu dem Thema sogar eine wissenschaftliche Konferenz veranstaltet.

Hierzulande war die Produktivität (auf Stundenbasis) in den neunziger Jahren noch um durchschnittlich etwas über zwei Prozent gestiegen, in den letzten sieben Jahren betrug die Zuwachsrate dagegen gerade einmal 0,4 Prozent. Wenn es so weitergeht und gleichzeitig der Anteil der Beschäftigten an der Gesamtbevölkerung sinkt – wie es von den Demografen vorausgesagt wird -, und damit die Anzahl der Arbeitsstunden zurückgeht, würde das reale Sozialprodukt pro Kopf zunächst stagnieren und dann sinken. Ohne wirksame Gegenmaßnahmen hätten unsere Kinder daher ein niedrigeres Einkommen als wir. Der Jahrhunderte währende Prozess ständig zunehmenden Wohlstands wäre beendet.

Es gibt leider für die Weltwirtschaft als Ganzes keine Zeitreihen mit Zahlen für die geleisteten Arbeitsstunden, so dass ich mich in der folgenden Grafik mit dem realen BIP pro Erwerbstätigem behelfen musste. Klar ist, dass es keine säkulare Stagnation der Produktivität gibt – höchstens für die reichen Länder lässt sich das beobachten. In den Entwicklungs- und Schwellenländern geht es weiter zügig voran, weil dort kräftig in Software und Hardware investiert wird und zwar in der Regel in die modernste und damit effizienteste Technologie.

Grafik: Produktivitätswachstum Welt OECD EME 1990-2014

Aber auch für diesen Teil der Welt gilt, dass die Zuwachsraten tendenziell zurückgehen. Sie werden allerdings noch viele Jahre lang sehr hoch sein. Es gilt der Lehrsatz vom abnehmenden Grenzertrag – dass die Zusatzerträge neuer Investitionen sinken, je kapitalintensiver produziert wird. Der erste Lastwagen einer Baufirma wird noch Tag und Nacht im Einsatz sein, wenn die Firma aber erst einmal über hunderte von ihnen verfügt, wird es viel Leerstand geben. Oder: Die erste Autobahn von Wien nach Istanbul verkürzt die Fahrtzeit dramatisch, wenn dann eine zweite oder dritte Schnellstraße hinzukommt, fallen die Produktivitätsgewinne bei den Speditionen viel geringer aus. Die Bäume wachsen nicht in den Himmel.

Immerhin liegt die durchschnittliche Wachstumsrate der weltwirtschaftlichen Produktivität immer noch bei zwei Prozent, was daher kommt, dass sie in den wirtschaftlich aufholenden Ländern etwa 3,5 Prozent beträgt. Durch Netto-Kapitalexporte, also Überschüsse in der Leistungsbilanz, können sich die OECD-Länder an diesen Zuwachsraten beteiligen. Das Geld wandert dorthin, wo es noch profitabel eingesetzt werden kann, also die kapitalarmen Regionen der Welt. Anders ausgedrückt, das Einkommen in den kapitalexportierenden Ländern kann auf diese Weise dauerhaft stärker zunehmen als die inländische Produktion. Gute Beispiele dafür sind die OPEC-Staaten oder Länder wie die Schweiz, Schweden – oder Deutschland.

Nicht Jedem wird diese Sicht der Dinge gefallen, vor allem nicht die Abhängigkeit vom Wohlwollen ausländischer Regierungen. Kapitalverkehrskontrollen und Verstaatlichungen können das schöne Geschäftsmodell jederzeit zerstören, auch wenn sich das Ausfallrisiko durch geschickte Streuung der Auslandsanlagen senken lässt. Aber erfreulich ist die Aussicht nicht, dass sich das eigene Land in ein stagnierendes Rentnerparadies verwandeln könnte. Daher die Aktualität der Frage, was sich gegen die Stagnation der Produktivität tun lässt, daher die Konferenz des IWF. Die Antwort lautet: immer noch eine ganze Menge.

Am naheliegendsten ist es, die Binnennachfrage zu stimulieren, etwa durch steuerliche Investitionsanreize, eine expansivere Finanzpolitik – Stichwort „Drei Prozent Haushaltsdefizit statt ein Prozent Überschuss“ -, durch höhere Lohnabschlüsse, durch eine Abwertung des Euro oder durch mehr Einwanderer. Dadurch wird es lohnender, im Inland zu investieren. Mit nichts lässt sich die Produktivität so stark steigern wie mit Investitionen in produktive Anlagen. Langfristig ist es fast noch wichtiger, die Qualifikation der Erwerbstätigen nachhaltig zu verbessern: Vom Kindergarten bis zu den Hochschulen müssen hohe Standards gesetzt und durchgehalten werden. Niemand darf als hoffnungsloser Fall im Abseits gelassen werden.

Auch im institutionellen Bereich gibt es mehr zu verbessern als man denkt. Ständig sollte der Markt darauf untersucht werden, wo es ungerechtfertigte Monopole oder Pfründe gibt. Warum verdienen die Notare so viel Geld, warum lassen sich die Gebühren der Immobilienmakler oder Architekten nicht frei verhandeln, warum gibt es in der Landwirtschaft immer noch garantierte Abnahmepreise? Wie steht es um die sozialen Aufstiegschancen? Werden sie durch das Steuersystem gefördert oder behindert? Könnte das Steuersystem nicht endlich einmal vereinfacht werden? Warum nicht die Mineralölsteuer erhöhen statt jetzt eine Maut auf PKW einzuführen? Warum nicht auch endlich die Mehrwertsteuern und andere direkte und indirekte Steuern in der EU vereinheitlichen, damit es nicht mehr nötig ist, wegen einer Tankfüllung in ein anderes Land zu fahren? Brauchen wir 16 Bundesländer? Und so weiter. Institutionell verankerte Verschwendung ist eine unterschätzte Produktivitätsbremse.

Dass die Produktivität nicht mehr so rasch steigt, darf also keineswegs als gottgegeben genommen werden, das Gesetz vom abnehmenden Grenzertrag hin oder her. Es gibt viele Stellschrauben, an denen sich drehen lässt.