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Warum die Zinsen so niedrig sind

 

Wenn ich mir ansehe, wie sich die realen Renditen der Bundesanleihen im vergangenen Jahrzehnt entwickelt haben, könnte ich leicht zu dem Schluss kommen, dass wir es mit einem stabilen Trend zu tun haben und sich die Anleger darauf einrichten sollten, dass die Gleichgewichtszinsen dauerhaft in der Nähe von null Prozent liegen werden. Das würde nicht nur zu den niedrigen Zuwachsraten der Produktivität passen, sondern auch zu den rekordniedrigen Leitzinsen und der Absicht der EZB, diese für einige Jahre nicht zu erhöhen.

Warum die Zinsen so niedrig sind

In den USA, in Japan, Großbritannien, der Schweiz und in Schweden sieht es ähnlich aus. Warum sind die Zinsen nicht höher? Schließlich expandiert das reale BIP der entwickelten Länder fast wieder im normalen Tempo, und zwar mit rund zwei Prozent jährlich. Es entsteht also Einkommen, mit dem die Zinsen für die Inanspruchnahme von Krediten bezahlt werden können. Warum geben sich die Sparer mit Realzinsen von Null zufrieden? Werden sie das auch in der Zukunft tun?

Vermutlich haben sie keine andere Wahl, solange die Notenbanken nämlich davon überzeugt sind, dass es beträchtliche ungenutzte Kapazitäten gibt. Sie lesen das ab an Inflationsraten, die sich weit unterhalb ihrer Zielwerte bewegen, und an Indikatoren wie Löhnen, Arbeitslosenzahlen oder Erwerbsquoten. Danach herrscht an den Arbeitsmärkten immer noch Unterbeschäftigung. Um diese Reserven zu mobilisieren und damit die Inflation zu stimulieren, wollen die Fed, die EZB, die Bank of Japan und die anderen weiterhin Vollgas geben. Diese Sicht der Dinge resultiert in Leitzinsen von 0,5 Prozent oder weniger, entsprechend niedrigen Geldmarktzinsen sowie Erwartungen, dass es im Wesentlichen dabei bleiben wird, mit der Folge, dass sich auch die langen Zinsen der Tendenz nach weit unterhalb des bislang Normalen bewegen. Nach den aktuellen Determinanten wären nominale Renditen für risikolose Bonds von etwa vier Prozent normal – das ist das Produkt aus mittelfristig erwarteter Inflation von etwas unter zwei Prozent, der Trendrate der Produktivität von ein bis zwei Prozent sowie einer Prämie für die Kursrisiken länger laufender Anleihen von 0,5 Prozentpunkten. Real entspricht das also rund zwei Prozent. Zum gedrückten Zinsniveau trägt zurzeit außerdem noch bei, dass die EZB in großem Stil Staatsanleihen aus dem Markt nimmt (quantitative easing).

Das heutige Zinsniveau lässt sich zudem durch das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage auf dem Markt für Ersparnisse erklären. Zum einen sei das Angebot aus strukturellen Gründen sehr groß. Es gibt hier drei konkurrierende Erklärungen: 1. Überall altern die Gesellschaften sehr rasch, was sich daran zeigt, dass der Anteil mittelalter, also in der Regel sparsamer Menschen an der Bevölkerung zunimmt. Das ist der demografische Ansatz. 2. Ein immer größerer Anteil des Volkseinkommens geht an die Spitzenverdiener – und die sind bekannt dafür, dass sie überproportional viel sparen und so die Gesamtersparnis in die Höhe treiben. 3. Insbesondere in den asiatischen Schwellenländern kommt es, vielleicht aus merkantilistischen Gründen, zu gewaltigen Überschüssen in den Leistungsbilanzen – sie leben unter ihren Verhältnissen und sparen so viel, dass sie gezwungen sind, netto Kapital in den Rest der Welt zu exportieren.

Durch diese savings glut (die Flut an Ersparnissen) sinken die Zinsen, und zwar sowohl nominal als auch real. Eigentlich müssten durch diesen Effekt zumindest in den industrialisierten Ländern die Investitionen mit hohen Raten zunehmen. Das ist aber nicht der Fall. Ganz im Gegenteil, überall sinken seit vielen Jahren die Investitionsquoten (Investitionsausgaben in Prozent des nominalen BIP).

Gregory Thwaites von der London School of Economics und der Bank of England legt zum anderen den Fokus auf die Nachfrage nach Ersparnissen. Er hat kürzlich darauf hingewiesen, dass die relativen Preise von Kapitalgütern in den USA und Großbritannien seit Langem sinken, sodass die Nachfrage nach Ersparnissen tendenziell schwach ist. Wir beobachten dasselbe Phänomen auch in Deutschland.

Grafik: Relativer Preis der Investitionen in Deutschland seit 1970

Wie zu sehen ist, sind die Preise für Ausrüstungen im Vergleich zu den Preisen für Güter und Dienstleistungen des privaten Verbrauchs seit Mitte der achtziger Jahre auf geradezu dramatische Weise gesunken. Absolut sind sie seit Anfang der neunziger Jahre ebenfalls zurückgegangen. Für eine bestimmte Summe Ersparnis konnten immer mehr Kapitalgüter erworben werden, mit der Folge, dass die Investoren weniger heftig um die Ersparnisse der Haushalte konkurrierten – was wiederum den Zins, also den Preis für die Ersparnisse senkte.

Ich frage mich, wie lange die relativen Preise für Kapitalgüter noch sinken werden. Ist es nicht plausibler, dass sich Konsumgüter durch Massenfertigung stärker verbilligen lassen als Ausrüstungen? Der Grund ist vermutlich, dass der Deflator des privaten Konsums einen immer größeren Anteil von Dienstleistungen enthält, die nicht durch Maschinen ersetzt werden können – und er daher im Trend stärker steigt als der Deflator der Ausrüstungsinvestitionen.

Insgesamt spricht jedenfalls auch die Theorie von Thwaites dafür, dass die langen Zinsen real fürs Erste sehr niedrig bleiben werden – wenn diese Preistrends anhalten.

Für die BIZ, die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, greifen die obigen Erklärungen für die niedrigen Realzinsen zu kurz. In ihrem neuen Jahresbericht argumentieren die Autoren – ich vereinfache mal –, dass die Zinsen vor allem deswegen so niedrig sind, weil sich die Notenbanken zu sehr darauf konzentrieren, die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen zu steuern. Wenn die Inflation für deren Geschmack – oder nach ihrem Verständnis für die wirtschaftlichen Prozesse – zu niedrig ist, geben sie Gas, bis die Löhne wieder kräftig steigen, Vollbeschäftigung erreicht und die Inflationsrate da ist, wo sie hingehört.

Weil Wachstum aber nicht mehr so leicht durch geldpolitische Maßnahmen zu erreichen ist, wie das vielleicht einst der Fall war, übertreiben sie den Stimulus. Statt zu Wachstum und Inflation kommt es zu finanzieller Instabilität in Form von kreditgetriebenen Aktien-, Immobilien- oder Rohstoffpreisblasen. Die platzen irgendwann, was die überschuldeten Akteure zwingt, durch sparsames Wirtschaften (deleveraging) ihre Kreditwürdigkeit wiederherzustellen. Das wiederum führt geradewegs in die nächste Rezession und zu einem Rückgang der Inflationsraten. Die Notenbanken sehen, dass die Auslastung der Kapazitäten wieder sinkt und folgern daraus, dass erneut Gas gegeben werden muss. Die Zinsen fallen (wenn es überhaupt noch geht). Mit anderen Worten: Durch die niedrigen Zinsen kommt es zu Blasen, ohne dass sich die Inflation beschleunigt, dann zu einem Einbruch der Vermögenspreise, zu einer Rezession, zu einer neuen Runde expansiver Geldpolitik und immerfort so weiter. Darum sind die Zinsen, ob kurz oder lang, heute und auf absehbare Zeit so niedrig wie sie sind. Niedrige Zinsen führen zu niedrigen Zinsen. Und die Notenbanken sind schuld.

Damit das nicht so bleibt, plädiert die BIZ für eine antizyklische Finanzpolitik sowie mikro- und makroprudenzielle Strategien, das heißt regulatorische Maßnahmen, die verhindern, dass es überhaupt zu bubbles kommt. Wachstum, insbesondere der Produktivität, erfordert mehr als Realzinsen von null Prozent oder darunter, mehr als die Ausweitung der Notenbankbilanzen, so hilfreich das ist. Was die Wachstumskräfte angeht, muss die Struktur der Volkswirtschaft stimmen. Es geht um mehr Wettbewerb, Anreize für Unternehmensgründungen, qualifizierte Arbeitskräfte, eine stärker produktivitätsorientierte staatliche Ausgaben- und Steuerpolitik und so weiter.

Im Übrigen sollten sich die Geldpolitiker dringend von der Theorie verabschieden, dass Preisstabilität automatisch zu gesamtwirtschaftlicher Stabilität führt. Eher ist das Gegenteil der Fall. Auch sollte sich kein Politiker der Illusion hingeben, dass alles in Ordnung ist, wenn im eigenen Land stabile Zustände herrschen. Da die spillovers eine immer größere Rolle spielen, drängt die BIZ darauf, die Wirtschaftspolitik international besser abzustimmen.

Und was lerne ich daraus? Solange die Geldpolitik fast allein verantwortlich ist für die Bewältigung der Krise, dürften die Realzinsen niedrig bleiben. Wachstumspolitik ist die Antwort, aber sie braucht eine breite Basis. Noch kann ich nicht erkennen, dass es in diese Richtung geht.